Bürgerkrieg Eine Gratis-App warnt die Syrer vor Assads Bombern

Damaskus · Ein privat entwickeltes Frühwarnsystem gibt Zivilisten wertvolle Zeit zur Flucht vor Luftangriffen.

Wenn die Nachricht auf dem Computer oder dem Handy erscheint, bleiben nur wenige Minuten: Ein Online-System warnt Zivilisten in Syrien vor bevorstehenden Luftangriffen. Inmitten des Gemetzels des syrischen Bürgerkrieges mit seinen bisher 500.000 Toten ist die Erfindung eine der wenigen Lichtblicke. Beim erwarteten Großangriff der syrischen Regierung auf die Provinz Idlib im Nordwesten des Landes könnte das System namens „Sentry“ – Wachposten – in den kommenden Wochen helfen, viele Menschenleben zu retten.

Der amerikanische Ex-Diplomat und Technologie-Fachmann John Jaeger, US-Unternehmer Dave Levin und ein syrischer Computer-Experte mit dem Codenamen „Murad“, der seinen wirklichen Namen aus Sicherheitsgründen nicht genannt wissen will, sind die treibenden Kräfte hinter dem Warnsystem. Ihre Firma Hala Systems betreibt „Sentry“ und schätzt, dass der „Wachposten“, der für die Nutzer kostenlos ist, die Zahl der Todesopfer bei einem Angriff derzeit um 20 Prozent senken kann.

Sobald „Sentry“ die Daten über einen bevorstehenden Angriff erfasst hat, erhalten Abonnenten des Systems eine Meldung auf ihrem Mobiltelefon oder ihrem Computer. Etwa acht Minuten haben die Betroffenen Zeit, sich in einem Keller oder einem Bunker in Sicherheit zu bringen. Im Gespräch mit unserer Zeitung berichtete Jaeger jetzt von einem der Fälle, in denen „Sentry“ erfolgreich war. „Ein Mann meldete sich bei uns und sagte, er habe sich und seine Familie gerettet, während sein Nachbar umkam.“

Jaeger und seine Partner haben in Syrien ein Netzwerk aus Beobachtern und automatischen Sensoren aufgebaut, die Erkenntnisse über anstehende Luftangriffe sammeln. Zu den Meldern gehören Syrer, die in der Nähe von Militär-Stützpunkten wohnen und sehen können, wenn Kampfjets aufsteigen. Über eine spezielle App informieren sie Hala Systems darüber, wie viele Flugzeuge unterwegs sind und in welche Richtung sie fliegen, während die Sensoren auf Hausdächern und in Baumkronen aufgrund der Fluggeräusche weitere Hinweise auf potenzielle Zielgebiete melden.

Hala führt die Informationen zusammen, gleicht sie mit Erfahrungswerten ab und verarbeitet sie zu einer konkreten Warnung an Zivilisten, Katastrophenhelfer und Ärzte im Angriffsgebiet. Diverse Internet-Messenger-Dienste dienen dabei als Kanäle. Seit neuestem kann Hala Systems zudem in einigen Gebieten von Syrien per Fernsteuerung viele Feuerwehrsirenen aktivieren und auf diese Weise warnen. In Syrien arbeitet Hala Systems mit der Gruppe der „Weißhelme“ zusammen, die sich mit der Rettung von Opfern von Luftangriffen einen Namen gemacht hat. Aussagen eines desertierten syrischen Kampfpiloten über Flugrouten, Geschwindigkeiten und Flughöhen halfen Hala ebenfalls, die Vorhersagen exakter zu machen. Inzwischen liegen oft nur 30 Sekunden zwischen der von „Sentry“ gemeldeten Angriffszeit und der tatsächlichen Ankunft der Jets.

Laut Firmenangaben hat „Sentry“ seit seiner Einführung vor zwei Jahren mehr als 100.000 Flugbewegungen erfasst und fast 7000 Luftangriffe an mehr als zwei Millionen Nutzer gemeldet. Jaeger vergleicht sein modernes System mit den Bauern im Süden Englands, die im Zweiten Weltkrieg die Bewohner von London telefonisch vor anfliegenden deutschen Bombern warnten.

Geld verdient Hala mit dem Gratis-System nicht. Die Firma wird von der Uno und mehreren westlichen Regierungen unterstützt und hofft, dass sich nach dem Syrien-Krieg kommerzielle Anwendungen finden werden. Vorerst steht die Hilfe für die Menschen im Mittelpunkt. Während einer Regierungsoffensive in Ost-Ghouta im Frühjahr rettete „Sentry“ mehreren Hundert Zivilisten das Leben. Die Warnungen seien damals „der einzige Hoffnungsschimmer“ gewesen, sagte ein Betroffener der „Washington Post“.

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