Tourismus Wie Schildkröten ein Dorf beschützen

Die südtürkische Kommune Cirali wehrt sich gegen den Massentourismus. Ihr wichtigster Verbündeter hat Flossen und einen Panzer.

 Ihsan Akdemir an einem Caretta-Nest am Strand von Cirali. Der Pensionsbetreiber hat sich mit rund 40 Gleichgesinnten zusammengeschlossen, um die Meeresschildkröten zu schützen.

Ihsan Akdemir an einem Caretta-Nest am Strand von Cirali. Der Pensionsbetreiber hat sich mit rund 40 Gleichgesinnten zusammengeschlossen, um die Meeresschildkröten zu schützen.

Foto: Susanne Güsten

Leise rauschen die Wellen auf den Strand von Cirali, das Mondlicht schimmert auf dem Meer. Ihsan Akdemir zückt sein Funkgerät und nimmt Kurs auf ein entferntes Licht. „Das ist jetzt die schlimmste Zeit“, erzählt er und muss dabei die Stimme anheben, um das Knirschen seiner Schritte im Kies zu übertönen. „Gegen Mitternacht, wenn die Restaurants schließen und die Urlauber alle noch einmal an den Strand wollen.“ Sie daran zu hindern, ist die nächtliche Mission von Akdemir und seinen Mitstreitern: Sie sind unterwegs, um eine bedrohte Art vor dem Aussterben zu retten.

Das Licht entpuppt sich aus der Nähe als Widerschein der Smartphones von ein paar jungen Leuten, die am Strand lagern und Bier trinken. „Guten Abend, Freunde, macht ihr bitte erst einmal das Licht aus“, spricht Akdemir sie an und erklärt ihnen dann, was er schon Tausenden Menschen erklärt hat: „Dieser Strand ist eine Brutstätte der Caretta Caretta, einer vom Aussterben bedrohten Meeresschildkröte. Wir haben in diesem Abschnitt fünf Nester, aus denen die Jungen bald schlüpfen werden. Ich muss euch daher bitten, den Strand zu verlassen.“

So schwergewichtig die ausgewachsene Caretta Caretta mit 100 bis 200 Kilogramm sein kann, so empfindlich und verletzlich sind die jungen Schildkröten, wenn sie aus den Eiern schlüpfen. Bei Mondlicht graben sich die winzigen Tierchen aus dem tiefen Sand heraus, in den das Muttertier rund 50 Tage zuvor die Eier gelegt hat, und bahnen sich über Kies und Sand einen Weg hinab zum Meer. Erreichen sie das Wasser bis zum Sonnenaufgang nicht, dann sterben sie in der Hitze oder werden von Vögeln geholt. Deshalb ist es wichtig, dass sie nicht gestört werden.

Die jungen Leute sind einsichtig und sammeln ihre Bierflaschen ein, um zu gehen. Akdemir läuft inzwischen schon weiter zum nächsten Licht, das die jungen Schildkröten verwirren und vom Kurs aufs Meer abbringen könnte. Dutzende Male wird er seinen Spruch in dieser Nacht noch vortragen müssen, und nicht alle nächtlichen Strandbesucher werden sich so einsichtig zeigen wie die Jugendlichen: Eine wahre Sisyphus-Aufgabe ist es, einen der schönsten Strände von Antalya mitten in der Tourismus-Saison nachts menschenleer zu halten.

Akdemir lässt sich davon nicht beirren, obwohl er schon einen langen Arbeitstag in seiner Pension hinter sich hat. Das Überleben der Meeresschildkröten liegt ihm nicht nur aus ideellen Motiven am Herzen, erzählt er. Es ist für ihn und seine Nachbarn in Cirali von existenzieller Bedeutung: „Eigentlich ist es die Caretta Caretta, die uns beschützt – nicht umgekehrt.“

In einem idyllischen Tal am südlichen Ende des Golfs von Antalya liegt Cirali an einer sanft geschwungenen Bucht mit einem drei Kilometer langen Traumstrand. Ringsum von Bergen geschützt, hat das Tal ein eigenes Mikroklima, in dem außer Hibiskus und Bougainvillea auch Bananen und Kakteen gedeihen – ein Paradies, das bisher vom Massentourismus verschont geblieben ist. Nur kleine Pensionen gibt es in Cirali, die meisten Familienbetriebe wie die Pension von Ihsan Akdemir, sechs Blockhütten in einem Garten voller Zitronenbäume und mit Hasen und Hühnern.

Nur eine Autostunde von hier türmen sich die Bettenburgen der türkischen Riviera. Mehr als 3000 Hotels mit rund 600.000 Betten säumen dort die Küsten. In Badeorten wie Lara und Belek reiht sich ein Betonklotz an den nächsten, die verbliebenen Flächen sind mit Schwimmbädern und Wasserparks verbaut. Alleine im vergangenen Monat kamen mehr als 2,2 Millionen Touristen nach Antalya. Zwar murmelte der neue türkische Tourismusminister unlängst ebenso wie alle seine Vorgänger etwas von nachhaltigem Tourismus, Umwelt und Kultur, doch ein Blick auf Antalya aus der Luft macht deutlich, dass dort nichts mehr zu retten ist.

Ein Alptraum ist das für die rund 600 Einwohner von Cirali – ein Schicksal, vor dem sie nur die Caretta Caretta bewahren kann. Dank der bedrohten Meeresschildkröte ist die Bucht von Cirali als Naturschutzgebiet ausgewiesen, in dem keine großen Hotels gebaut werden dürfen – aber nur solange die Caretta hier ihre Eier legt. „Wenn die Zahl der Nester am Strand einmal unter 20 oder 30 fällt, dann gilt das nicht mehr als überlebensfähige Caretta-Bevölkerung“, erklärt Akdemir. „Dann verliert die Bucht den staatlichen Naturschutz, dann wird das Tal zur Bebauung freigegeben und zubetoniert, dann kommt der Massentourismus nach Cirali.“ Damit das nicht passiert, haben sich die Einwohner von Cirali zu einem Verein zusammengeschlossen, der um das Überleben der Schildkröten kämpft. Ab dem Frühjahr sperren sie nachts ihren Strand, damit die Caretta in Ruhe ihre Eier legen kann. „Ein gewaltiges Naturschauspiel ist das, wenn die Muttertiere aus dem Meer kommen und mit den Hinterflossen ein tiefes Loch schaufeln“, erzählt Akdemir. „Sehr anstrengend ist das. Und wenn sie die Eier gelegt haben, schaufeln sie noch ein paar Löcher mehr, um Raubtiere vom Nest abzulenken.“

Im Mai und Juni geschieht das, und die Freiwilligen von Cirali liegen dann schon auf der Lauer, um die Nester zu identifizieren und sichern zu können. Mit kleinen Schutzzäunen schirmen sie jedes Nest ab und stellen eine Infotafel dazu, die in vier Sprachen – Türkisch, Englisch, Russisch und Deutsch – die Situation erklärt. Jedem Urlauber in Cirali wird schon bei der Ankunft in seiner Pension eine Broschüre mit Informationen über die Caretta Caretta überreicht und erklärt, dass man zwischen zehn Uhr abends und fünf Uhr früh nicht auf den Strand darf.

„Mit den Pensionsgästen haben wir seither kein Problem mehr“, erzählt Akdemir, während er über den dunklen Strand zum nächsten Lichtschein hastet. „Aber die Wildcamper und Wochenendausflügler, die halten uns die ganze Nacht auf Trab.“ Vier hauptamtliche Nachtwächter bezahlen die Pensionsinhaber von Cirali, für die sie zusammenlegen, doch die haben vor allem an Wochenenden allein keine Chance gegen den Ansturm. Drei bis viermal pro Woche geht Akdemir deshalb selbst mit auf Patrouille und wechselt sich dabei mit rund 40 weiteren freiwilligen Helfern ab.

Die nächste Gruppe, auf die Akdemir trifft, ist auch schon von einem Mitstreiter verwarnt worden und bereits auf dem Rückzug. Auf Instagram hätten sie Bilder von dem Strand gesehen und beschlossen, dort zu zelten, erzählt einer der jungen Männer, aber die Caretta stören wollten sie natürlich nicht. Akdemir weist ihnen den Weg zu einem Zeltplatz außerhalb der Schutzzone und eilt weiter den Strand hinab, wo zwei Menschen im dunklen Wasser plantschen. „Ich bin Biologe, ich kenne mich aus“, schreit einer der Schwimmer über das Rauschen der Wellen zurück, als Akdemir ihn aus dem Wasser beordert.

Gut, dass er sich auskenne, sagt Akdemir, als der Mann und seine Freundin schließlich aus dem Wasser kommen – aber dann wisse er doch sicher, dass man die schlüpfenden Jungtiere nicht stören dürfe? Der Schwimmer wird nun pampig und verlangt zu wissen, mit welchem Recht Akdemir hier Strandverweise zu erteilen habe. In solchen Momenten ist Akdemir froh, den Ausweis vorzeigen zu können, den er um den Hals hängen hat und der ihn als Beauftragten des Amtes für Naturschutz und Nationalparks identifiziert. Die Freiwilligen von Cirali bekommen zwar kein Geld vom Staat, dafür aber dessen Rückendeckung: Wenn nötig, kommt die Polizei den Strandwächtern zur Hilfe, um Betrunkene wegzuschaffen.

Der Biologe und seine Freundin lassen es aber nicht so weit kommen und trollen sich murrend, als sie den Ausweis sehen. Akdemir warnt per Funk seine Kollegen im nächsten Strandabschnitt, falls die beiden es an anderer Stelle noch einmal versuchen sollten, und läuft weiter. Aus 15 Nestern werden in dieser Nacht die Jungen schlüpfen, so schätzt er . „15 Nester, das bedeutet knapp 10.000 Junge“, sagt Akdemir. „Wenn von diesen 10.000 Jungen nur 20 überleben, dann ist das ein großer Erfolg – so empfindlich sind sie.“

Akdemir ist stolz darauf, dass vielleicht in einigen Jahrzehnten eine Caretta Caretta, die in einer dieser Nächte unter seiner Fürsorge schlüpft, an den Strand von Cirali zurückkehrt. Die Chancen stehen nicht schlecht: Fast 150 Nester haben die Naturschützer in diesem Sommer gezählt – das ist die höchste Zahl seit mehr als 20 Jahren.

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