Krise Italiens Tanz in den Abgrund

Rom · Tote in Kalabrien und Genua, Flüchtlingsboote und marode Staatsfinanzen: Italien hat einen Haufen Probleme. Die neue populistische Regierung sucht die Schuld überall – nur nicht bei sich selbst.

 Ein Land am Abgrund? Nicht nur die eingestürzte Brücke in Genua steht auf der Liste der Probleme Italiens.

Ein Land am Abgrund? Nicht nur die eingestürzte Brücke in Genua steht auf der Liste der Probleme Italiens.

Foto: dpa/Simone Arveda

Der traurige Protagonist dieses Sommers ist Italien. Seit bald drei Monaten ist eine neue Regierung im Amt, die vor allem durch schockierende Auftritte besticht. Sie weist Flüchtlingsboote in italienischen Häfen ab – oder will die Menschen zumindest nicht an Land lassen, wofür gerade erst der Innenminister Matteo Salvini von der Justiz abgestraft wurde. Doch nicht nur das: In einer Schlucht in Kalabrien wurden vergangene Woche zehn Wanderer Opfer eines unerwartet starken Regenfalls. Kurz zuvor starben 43 Menschen beim Einsturz der Autobahnbrücke in Genua. Seither surft die Regierung auf einer Welle der Empörung, die das Land durchzieht.

Noch bevor die Unglücksursache festgestellt ist, haben die Minister der Regierungskoalition von Fünf-Sterne-Bewegung und Lega die Schuldigen bereits in der Investoren-Familie Benetton ausgemacht, die die Aktienmehrheit an der Autobahn-Betreibergesellschaft hält. Innenminister Salvini, der Mann, der maßgeblich die ultraharte Asylpolitik verantwortet, zeigte sein ganz besonderes Talent als Lippenleser der Massen, als er die Sparpolitik der Europäischen Union (EU) für den Brückeneinsturz mitverantwortlich machte. Je unbeliebter und ungreifbarer die mutmaßlichen Verantwortlichen sind, desto schneller werden sie in Italien derzeit zu Schuldigen abgestempelt.

Die Tendenz ist eindeutig: Nicht nur Flüchtlinge sollen mit immer radikaleren Methoden abgewehrt werden. Auch die Verantwortung für viele Missstände wird kollektiv abgeschoben. Die Regierung verstärkt nur einen Effekt, der auch im Kleinen etabliert ist. Selten erkennen die Menschen die Ursache für Missstände bei sich selbst. Es ist viel einfacher, die oft ungreifbaren Institutionen oder andere für die Versäumnisse verantwortlich zu machen. Im Fall der ertrunkenen Wanderer in Kalabrien wurden schon am Tag nach dem Unglück Stimmen laut, die mangelnde Umsicht der Behörden beklagten. Sie hätten den gefährlichen Parcours sperren müssen. Von der Eigenverantwortung der Abenteurer ist keine Rede.

Im Fall der eingestürzten Autobahnbrücke nutzt die erst seit drei Monaten amtierende italienische Regierung ihren Newcomer-Status skrupellos aus. Sie zeigt voreilig mit dem Finger auf die vermeintlich Schuldigen. In ein paar Jahren, sollte das Bündnis dann überhaupt noch im Amt sein, wäre diese Haltung nicht mehr möglich. Das sind die Zukunftsaussichten für Populisten, die Kapital aus den Versäumnissen der Vergangenheit schlagen wollen. Die italienische Regierung befindet sich noch im Honeymoon mit ihren Wählern. Man muss kein Hellseher sein, um das Ende der Romanze vorauszusehen.

In Italien sind die Folgen dieser Kurzsichtigkeit besonders gut zu beobachten. In großen Teilen der Bevölkerung haben Pessimismus, Enttäuschungen, Angst und eine latente Aggressivität spürbar zugenommen. Schuld sind immer die anderen. Das gilt auch für die italienischen Staatsfinanzen. Das Land ächzt unter einer Staatsschuld von rund 2,3 Billionen Euro. Im Turnus wird das abstrakte Gebilde der EU für die finanzielle Not der Staatskassen verantwortlich gemacht – obwohl etliche nationale Regierungen mit horrender Staatsverschuldung ihr Land und den Kontinent sehenden Auges ins Dilemma manövrierten. Seither dreht sich die Diskussion ohne Ergebnis im Kreis. Soll die Wirtschaft mit zusätzlichen Staatsausgaben angekurbelt werden, oder kann der Schuldenberg durch Sparmaßnahmen langsam abgebaut werden?

Im Zuge der türkischen Währungskrise ist auch wieder von Italien als finanzieller Achillesferse der Euro-Zone die Rede. Das auf ununterbrochenem Wachstum basierende Wirtschaftsmodell bekommt in Italien seit Jahren seine selbstmörderischen Aspekte im Spiegel vorgehalten. Es ist zu einfach, auf die unverantwortlichen Südländer zu zeigen, die angeblich auf Pump leben. Dass die Verantwortung über die Landesgrenzen hinaus geht, zeigt schon die Tatsache, dass ein Kollaps der italienischen Staatsfinanzen zumindest europaweite Folgen hätte. Wir sitzen im selben Boot, klagen uns aber gegenseitig an.

Die Finanzpolitik gibt keine glaubwürdigen politischen Antworten auf diese Misere. Manchmal hat man den Eindruck, nur der Zusammenbruch könnte heilende Wirkung entfalten – andernfalls scheint der Druck zur Veränderung zu gering. Damit wäre man wieder bei der eingestürzten Autobahnbrücke in Genua. Die Stabilität der Brücke war seit Jahrzehnten fraglich, Fachleute und politische Entscheider haben es aus noch unbekannten Gründen versäumt, die Sicherheit des Viadukts zu gewährleisten. Auch hier greift es aber zu kurz, ein paar Techniker als Sündenböcke abzustempeln.

Die Frage ist, was aus einer angekündigten Tragödie wie in Genua zu lernen sein könnte. Ist es wirklich mit einem großen Investitionsplan für die Infrastruktur in Italien und akkuraten Sicherheitsmaßnahmen getan? Dabei gibt es auch in diesem Fall Hinweise darauf, dass die Entwicklung unserer Gesellschaft in einer Sackgasse steckt. Diskutiert wird über Umgehungsstraßen, aber kaum darüber, wie dem Anstieg von Transport und Verkehr beizukommen ist.

Das Dogma des unendlichen Wachstums liegt vielen aktuellen Problemen zugrunde, in Italien drängen sie gerade auffällig an die Oberfläche. Denn auch in der Angst vor der Migration liegt die Sorge begründet, vom Wohlstand eine dicke Scheibe abgeben zu müssen. Kritiker solcher angeblich fortschrittsfeindlichen Beobachtungen wenden ein, hier werde anscheinend eine Rückkehr in mittelalterliche Verhältnisse gefordert, mit Völkerwanderung auf schlammigen Straßen. Diese Reaktion zeigt, dass wir eines verlernt haben: Alternativen zum Konzept des fortwährenden Wachstums überhaupt zu denken.

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