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Menschenrechtsverletzungen Wovor Bosnier die Ukrainer warnen

Sarajewo · Raketen gegen Zivilisten, Folter, Hinrichtungen - die Welt ist empört über das russische Vorgehen in der Ukraine. In Bosnien ruft es böse Erinnerungen wach. Wie realistisch ist es, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden?

 Eine 70-jährige Ukrainerin weint am Grab ihres von russischen Soldaten getöteten Sohnes, dessen Leiche neun Tage zuvor in Butscha gefunden wurde.

Eine 70-jährige Ukrainerin weint am Grab ihres von russischen Soldaten getöteten Sohnes, dessen Leiche neun Tage zuvor in Butscha gefunden wurde.

Foto: AP/Rodrigo Abd

Edin Ramulic war 22 Jahre alt, als er und seine männlichen Verwandten zusammen mit Tausenden anderen Zivilisten in der bosnischen Stadt Prijedor von bosnischen Serben zusammengetrieben wurden - um dann aus der Gegend deportiert, gefangengehalten, gefoltert oder getötet zu werden. Mehr als 3000 Nichtserben, darunter 102 Kinder, kamen in Prijedor ums Leben, manche wurden in ihren Häusern hingerichtet, andere starben in drei Gefangenenlagern, in denen schwerste Misshandlungen gang und gäbe waren. Ramulics älterer Bruder, Onkel und vier Cousins überlebten die Camps nicht. Das war 1992, zu Beginn des blutigen Bosnien-Krieges, der bis 1995 dauerte.

Jetzt haben Ramulic und andere Überlebende dieses Konflikts eine Botschaft für die Ukrainer: Egal, wie der Krieg in ihrer Heimat eines Tages endet, es wird eine lange und schmerzliche Prozedur sein, die russischen Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen. Ramulic und die anderen wissen das aus eigener Erfahrung, haben Jahre nach dem Bosnien-Krieg damit verbracht, das Erlebte zu schildern und ihr Trauma immer wieder neu zu erleben - in der Hoffnung, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird und die volle geschichtliche Wahrheit ans Licht kommt.

„Für mich ist es etwas Persönliches“, sagt Ramulic. „Ich suche noch immer nach den sterblichen Überresten meines Bruders. Ich kann nicht nach vorne schauen. Ich kann mich nicht auf etwas anderes konzentrieren und dies hinter mir lassen.“

Ein langer Prozess - so wird es wohl auch auf viele der Menschen im ukrainischen Butscha zukommen, deren Angehörige von russischen Soldaten gefoltert und getötet wurden. Die grausigen Zeugnisse der gezielten Tötung von Hunderten Zivilisten traten zutage, nachdem die Russen aus dem Gebiet abgezogen waren. Die Parallelen zu Prijedor sind unübersehbar. Wie jetzt nach dem Massaker in Butscha hatte die Welt auch damals, nach der Entdeckung der Camps im August 1992 durch internationale Journalisten, mit Abscheu und Empörung reagiert - und politische Führungspersonen forderten, dass die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.

Der Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen setzte 1993 in Den Haag ein spezielles UN-Tribunal für Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien ein. Es war das erste internationale Gericht zur Untersuchung und Strafverfolgung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord seit den Tribunalen von Nürnberg und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg.

Zuerst dachte niemand, dass es funktionieren würde, der Zugang der Ermittler zu Tatorten in Prijedor und anderswo in Bosnien wurde jahrelang blockiert, und die politischen Spitzen der bosnischen Serben und des benachbarten Serbiens stritten weiterhin Menschenrechtsverletzungen ab, versteckten Dokumente und jene, die angeklagt wurden. Radovan Karadzic, der Führer der bosnischen Serben während des Krieges, und sein Militärkommandeur Ratko Mladic waren lange flüchtig, wurden erst in den späten 2000er Jahren in Serbien aufgespürt.

Aber bis das Tribunal 2017 eingestellt wurde, hatte es 83 hochrangige Kriegszeit-Politiker und Militärvertreter verurteilt. Zudem wurden Berge von Beweismaterial und diverse Fälle, die weniger prominente Verdächtige involvierten, an Institutionen in den jeweiligen Heimatländern auf dem Balkan weitergeleitet.

In ihrem verzweifelten Bemühen um Aufklärung über das Schicksal ihrer Angehörigen und hungrig nach Gerechtigkeit änderten Überlebende wie Ramulic ihr Leben, bildeten Hilfsgruppen für potenzielle Zeugen und sammelten Informationen über Vermisste. „Ich habe zahllose Monate in verschiedenen Gerichtssälen (als Zeuge) verbracht, gehört, wie Anwälte der Verteidigung versuchten, die Beweise zu leugnen“, schildert Ramulic.

Er weiß immer noch nicht, wo sich die Überreste seines Bruders befinden oder genau, wer ihn getötet hat und wie. Aber die Gerichtsurteile, manchmal mit seiner Hilfe zustande gekommen, sind nach seinen Worten „das Wertvollste, das wir haben, denn die auf Beweise basierende Wahrheit, die sie enthalten, kann nicht für immer ignoriert und geleugnet werden“.

Munira Subasic verlor ihren Mann und einen Sohn im Massaker von Srebenica 1995, in dem insgesamt 8000 Männer und Jungen starben - der einzige Vorgang im Bosnien-Krieg, der rechtlich als Völkermord definiert wurde. Im Zuge ihrer verzweifelten Suche nach ihren vermissten Familienmitgliedern bildeten Subasic und andere Frauen eine Organisation, Mütter von Srebenica, engagierten sich in Straßenprotesten und anderen Aktionen - alles mit dem Ziel, die Suche nach Massengräbern, Identifizierung der Überreste von Opfern und die Strafverfolgung der Schuldigen voranzutreiben. Heute ist das Schicksal von fast 90 Prozent der Vermissten von Srebenica aufgeklärt.

„Wir kannten die Namen der Mörder, wir sammelten sie und gaben die Informationen an die Staatsanwälte weiter, wir haben jede Massengrabstätte besucht, nach Informationen gesucht, wo sich andere befinden könnten. Wir haben uns jedem in den Nacken gesetzt, Gerechtigkeit gefordert“, sagt Subasic. „Mütter der Ukraine werden das Gleiche tun müssen.“

Dass die Russen die Gräueltaten in Butscha und an anderen Orten in der Ukraine leugneten, erinnere sie sehr an die Vorgänge nach Srebenica. „Doch wenn Überlebende hartnäckig sind, wird die Wahrheit siegen.“

Aber absolute Gerechtigkeit ist auch im Fall Bosnien ausgeblieben. Der Krieg hat 100.000 Menschen das Leben gekostet, die meisten davon Zivilisten, und fast zwei Millionen - mehr als die Hälfte der gesamten Bevölkerung des Landes - wurden vertrieben. Drei Jahrzehnte nach dem Beginn des Krieges ist das Schicksal von etwa 7000 Vermissten nicht aufgeklärt, die bosnische Justiz hat einen Rückstau von über 500 ungelösten Fällen von Kriegsverbrechen, die 4500 Verdächtige involvieren. Und je mehr Jahre vergehen, desto wahrscheinlicher wird es, dass viele dieser Fälle nie in einen Prozess münden werden.

(peng/dpa)
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