Corona-Proteste in China Der Zorn des Volkes

Peking · In Peking sind erstmals seit Jahrzehnten wieder Tausende Menschen auf die Straßen gegangen. Ihr Protest gegen die Corona-Maßnahmen erreicht eine neue Dimension: Er erfasst nahezu ganz China.

Fotos: Demonstrationen in China gegen Null-Covid-Politik
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Tausende demonstrieren gegen Corona-Politik in China

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Foto: dpa/Ng Han Guan

Es ist bereits weit nach Mitternacht, doch die Menschen wollen weiter in der Pekinger Novemberkälte ausharren. Tausende haben sich nahe des Liangma-Fluss versammelt, nur einen Steinwurf vom Botschaftsviertel entfernt. Unter den wachsamen Augen dutzender Diplomaten und Korrespondenten erheben sie ihre Stimme, die aufgrund von Repressionen und Zensur lange Zeit stumm blieb. „China ist ein Land, keine Partei“, schreit eine Frau innbrünstig in die Menge. Sie trägt keine Maske, Dutzende der anrückenden Polizisten – manche in Uniform, manche in Zivil – blicken ihr direkt in die Augen. Doch die Chinesin lässt sich nicht einschüchtern. Nur ein paar Meter entfernt skandiert nun ein weiterer Demonstrant, der auf eine Steinmauer geklettert ist, unter dem Jubel von Hunderten Menschen: „Das Land gehört unserem Volk, nicht ihnen!“

Damit ist unmissverständlich jene Parteiführung gemeint, die seit der Pandemie weniger denn je bereit ist, ungewollte Meinungen zuzulassen. Das gesamte Jahr 2022 wurde in fast allen chinesischen Städten von rigiden Lockdowns und schikanösen Covid-Beschränkungen dominiert. Deren tragische Folgeschäden betraf nahezu alle Chinesen, wenn auch in unterschiedlicher Härte. Doch die Zensur versuchte mit immer brachialerer Methoden, sämtliche Stimmen aus dem öffentlichen Diskurs auszuradieren, die von der Scheinidylle der offiziellen Propaganda abgewichen sind. Unter der Oberfläche jedoch brodelte es bereits längere Zeit.

„Was in den letzten 24 Stunden passiert ist, ist insofern neuartig, als dass Demonstranten in mehreren Städten auf die Straße ziehen sind und offensichtlich voneinander wissen, was in anderen Teilen des Landes passiert“, kommentiert William Hurst, Politikwissenschaftler an der renommierten Cambridge Universität. Bisher gab es seit dem Tiananmen-Massaker von 1989 in China vor allem lokal begrenzte Proteste – etwa gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen in einzelnen Fabriken, oder gegen die Inkompetenz einer Kommunalbehörde. Diesmal jedoch ist der Dissens breiter, und er hat praktisch ganz China erfasst.

Am 13. Oktober gibt der sogenannte Bridge Man dem Frust der Chinesen erstmals ein Gesicht. Er zog, mit einer orangefarbenen Arbeitsweste als Bauarbeiter getarnt, auf die vielbefahrene Sitong-Brücke in Peking, um dort riesige Spruchbänder an dem Geländer anzubringen: „Wir wollen Bürger sein, keine Sklaven“, stand auf einem der Banner geschrieben. Viele dachten, es handele sich dabei um den einsamen Protest eines Verzweifelten, der nun für den Rest seines Lebens verstummen wird – in einer Zelle und anschließend im Hausarrest.

Doch in der Nacht zu Montag waren seine Slogans mitten im Pekinger Chaoyang-Bezirk zu hören – und lauter denn je. „Wir wollen keine PCR-Tests, wir wollen Freiheit“, schreit die Menge immer wieder. Dass sie sich ausgerechnet hier versammelt haben, wo die meisten Korrespondenten wohnen und die Botschaften angesiedelt sind, ist kein Zufall: Die Weltöffentlichkeit schaut gebannt auf jene mutigen Pekinger, die erstmals seit mehreren Jahrzehnten ihren Protest auf die Straße bringen.

Die Polizei scheint in dieser Nacht zumindest die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Sie kreist die Demonstranten zwar ein, separiert die Massen in kleinere Gruppen. Doch sie wendet keine physische Gewalt an, und scheint auch vor Verhaftungen zurückzuschrecken – wohl auch, weil die Leute keine direkte Kritik an Staatschef Xi Jinping persönlich äußern.

Bislang ist noch nicht abzusehen, wie ausdauernd der Zorn der chinesischen Volksseele anhalten wird. Doch es scheint, als ob seit dem vergangenen Wochenende ein Damm gebrochen ist: Der Mut einiger weniger inspiriert viele weitere, es ihnen gleichzutun. Die chinesische Jugend hat zwar schmerzhaft lernen müssen, dass ein Einzelner in diesem System nicht viel ausrichten kann. Doch nun erfährt sie, dass man gemeinsam eine mächtige Stimme hat.

Millionen junger Chinesen posten plötzlich in einer bisher nie dagewesenen Geschwindigkeit kritische Videos in den sozialen Medien, so dass die Zensoren kaum mehr mit dem Löschen nachkommen. Dabei sind auch Liedzeilen von Pink Floyd zur Hymne derjenigen geworden, die sich keine Bevormundung der Partei mehr wünschen: „We don‘t need no education, we don‘t need no thought control“.

Ein junger Demonstrant wird in Shanghai von der Polizei in Gewahrsam genommen.

Ein junger Demonstrant wird in Shanghai von der Polizei in Gewahrsam genommen.

Foto: AP

Die offiziellen Staatsmedien versuchen bereits ihre altbekannten Rezepte anzuwenden: Sie sprechen von „ausländischen Kräften“, die die Demonstrationen organisieren würden oder tun die dutzenden Proteste im ganzen Land als eine „fehlgeleitete Minderheit“ ab. Doch viele Chinesen haben das perfide Spiel der staatlichen Propaganda längst durchschaut: Sie wollten auch am Montag wieder auf die Straße gehen. Allerdings verhinderte eine massive Polizeipräsenz in mehreren Städten ein Wiederaufflammen der Proteste.

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