Sport als Kulturgut Die Verlässlichkeit der Fans

Düsseldorf · Aus Tradition in eine Partei eintreten? Vergangenheit. Mitglied in der Kirche sein? Nicht mehr selbstverständlich. Im Sport indes halten die Menschen ihrem Verein die Treue. Kann die Gesellschaft vom Fansein lernen?

Da sieht man vor lauter Vereinslogos den Fan nicht mehr: Fortuna-Fans Ende 2019 im Signal Iduna Park bei einer Begegnung mit Borussia Dortmund.

Da sieht man vor lauter Vereinslogos den Fan nicht mehr: Fortuna-Fans Ende 2019 im Signal Iduna Park bei einer Begegnung mit Borussia Dortmund.

Foto: dpa/Bernd Thissen

Als Fußballfan war das Leben fast schon einfach. Der Spielplan gab vor, wo man sich am Wochenende wann aufhalten würde. Ob im heimischen Stadion oder in einer beliebigen Arena anderswo in Deutschland. Dann kam die Corona-Pandemie. Seither ist nichts mehr einfach, auch nicht für Fußballfans. Die Krise hat Geisterspiele zur Normalität gemacht und Fans alternativlos vor die TV-Geräte verbannte. Der Stadionbesuch, die große Konstante, das wichtigste Argument für irrationale, bedingungslose Loyalität, fehlt seither.

Helen Breit ist seit frühster Kindheit Fan des SC Freiburg. Seit einigen Jahren ist sie auch Vorsitzende und Sprecherin der größten deutschen vereinsübergreifenden Fanorganisation „Unsere Kurve“. Helen Breit liebt Fußball, Helen Breit lebt Fußball. Sie sagt: „Der Fußball ist meine Sozialisationsinstanz und ist über mein ganzes Leben hinweg eine Konstante gewesen.“ Dabei gehörte Breit schon vor der Krise zu denjenigen, die Veränderungen im Profifußball forderten und sich unter anderen in Diskussionen um eine gerechtere Verteilung von TV-Geldern einbrachte. Mit viel Energie und Leidenschaft, allen Ärgernissen und zunehmender Kommerzialisierung des Sports zum Trotz. Eine Zukunft ohne Fußball konnte, nein, wollte Breit sich nicht vorstellen. Sie sagt: „Bis März letzten Jahres ging ich eigentlich davon aus, dass das für immer so sein wird.“

Seit die Stadien geschlossen sind, setzen sich engagierte Fans stärker als zuvor mit der eigenen Leidenschaft, der Loyalität zum Fußball und dem eigenen Verein auseinander. Einzelne Fanclubs haben sich aufgelöst, die Vereine fragen sich, wie viele Stadiongänger wirklich dauerhaft zurückkommen, wenn die Tribünen wieder geöffnet werden können. „Der Stadionbesuch hat immer dafür gesorgt, die negativen Entwicklungen auszugleichen. Seit es den nicht mehr gibt, ist es schwierig“, sagt Breit. Auch Freundschaften, die vor allem durch das Fansein und den Stadiongang geprägt wurden, leiden. Breit beschreibt das so: „Es verschieben sich die identitätsstiftenden Momente.“

Kevin Kühnert weiß, wovon Helen Breit spricht. Der 31-Jährige ist Dauerkarten-Inhaber bei Arminia Bielefeld – und stellvertretender Vorsitzender der SPD. Mit Stand 2020 sind die Sozialdemokraten noch immer die mitgliederstärke Partei in Deutschland. Gleichzeitig ist die SPD seit Jahren in einer Umfrage- und Wahlergebniskrise. Viele langjährige Mitglieder und Wähler haben der einstigen Arbeiterpartei den Rücken kehrt. Neue Wählergruppen dauerhaft an sich zu binden, fällt nicht nur der SPD schwer. „Bei Parteien ist es häufig so, dass die Menschen erwarten, dass wir erstmal in Vorleistung gehen, bevor man uns wählt oder gar Mitglied wird“, sagt Kühnert.

Hilfreich sind für die Parteien einzelne Vorfälle, die die Menschen bewegen. Kühnert hat dazu Dynamiken beobachtet, die man auch aus dem Fußball kennt: „Oft werden Leute SPD-Mitglied, um aus aktuellem Anlass Stellung zu beziehen und ein Zeichen zu setzen. Das haben wir zum Beispiel nach dem Brexit, der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten oder Wahlerfolgen der AfD gemerkt.“ Ähnlich geht es Sportvereinen in sportlich erfolgreichen Zeiten – doch die daraus erwachsene Loyalität ist im Sport krisenbeständiger als in der Politik. Vor allem dann, wenn sie sogar in die Kinderwiege gelegt wurde. Kühnert sagt: „Sowas gibt es in der Politik kaum noch. Bei uns hat wahrscheinlich niemand schon als Kind in SPD-Bettwäsche geschlafen.“

Können Politik und auch die Kirchen, einst gesellschaftlich prägende und zusammenführende Institutionen, doch etwas vom Fußball lernen? Kühnert glaubt, dass Partizipation das Pendant zum Stadionbesuch sein könnte. Er nennt Mitbestimmung der Mitglieder „ein wichtiges Instrument“. Deshalb fragte seine Partei 2017 alle Mitglieder – ob aktiv oder passiv – nach einer weiteren Großen Koalition fragte. Das Ergebnis ist bekannt. Geholfen hat es der Partei kaum.

Doch warum ist das so? Wieso funktionieren Treue und Verlässlichkeit im Fansein? Weshalb klappt hier, was in anderen Gesellschaftsbereichen erodiert? „Das liegt an der Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft“, sagt Harald Lange. Er ist Sportwissenschaftler an der Universität Würzburg und Gründer des Instituts für Fankultur. „Unser Leben ist so schwierig geworden, viele Lebensbereiche sind wenig nachhaltig, da müssen wir permanent wechseln und können uns Treue aufgrund der harten Bedingungen nicht leisten.“

Fansein im Sport also als „Accessoire“? „Fansein im Fußball ist im Grunde ein Luxusthema. Wenn es den Fußball nicht gäbe und wir nicht wüssten, dass es ihn je gegeben hat, würden wir gleichwohl unser Leben leben, als wäre nichts passiert“, sagt Lange. Aber dadurch, dass man sich dem Phänomen verschrieben habe, sei es subjektiv für den Fan das wichtigste Thema auf dieser Welt. „Und deswegen können wir uns auch ohne Rücksicht auf Verluste auf das Fansein einlassen, denn wir haben ja nichts zu verlieren – anders als in anderen Lebensbereichen eben. Ich kann es aushalten, Schalke-Fan zu bleiben, auch wenn sie absteigen. Aber wenn meine Firma mir nur noch das halbe Gehalt zahlen kann, stellt sich die Frage, ob ich es mir finanziell leisten kann, in dieser Firma zu bleiben.“

Lange will die Hoffnung nicht kleinreden, dass da dann eben doch etwas ist, was sich vom Fansein aufs Leben übertragen lässt. „Der Mensch hat ein Ur-Bedürfnis nach Bindung. An andere Menschen, an Gemeinschaft, an materielle Dinge. Und eben auch an kulturelle Errungenschaften wie Sportvereine, ein Theater, eine Band“, sagt Lange. „Bindung gibt uns Sicherheit. Gerade, wo das Berufsleben heute so unstetig ist, brauchen wir Kompensationsbereiche, in denen wir uns konsequenzenlos binden und dabei Ruhe und Kraft tanken können.“

Fansein ist für Lange wie wohl für viele Fans ein Anker im Strudel des digitalen Lebens. Und die gute Nachricht lautet: Der Sport als Kulturgut, da ist sich Lange sicher, wird überleben. „Fans gibt es nur, weil wir soziale Wesen sind. Genau deswegen haben Menschen Kultur hervorgebracht“, sagt der Fanforscher. Aber was, wenn das Leben noch mehr auf die Tube drückt und uns durcheinanderwirbelt? „Wäre es möglich, dass die digitale Welt mal so ein Tempo annimmt, dass Menschen keinerlei Anker mehr finden? Meine These wäre: Die Welt kann wachsen, wie sie will, die Kultur muss und wird mitwachsen. Die Digitalisierung kann richtig abgehen, aber die Kultur muss Schritt halten und dabei den Menschen unbedingt Zugang zu ihr ermöglichen“, sagt Lange.

Doch Sport als Kulturgut ist ein weites Feld. Was ist konkret mit dem Profifußball als Massenphänomen? Übersteht er wirklich auch die aktuelle Krise? Oder wenden sich die Menschen ähnlich ab, wie es Kirchen oder Parteien in den vergangenen Jahren erleben mussten? Weder Breit noch Kühnert mögen das so recht einschätzen. Kühnert sagt: „Die Vereine sind gefordert, noch stärker als bislang identitätsstiftende Arbeit zu leisten, denn viele haben durch die Pandemie gelernt, neue Schwerpunkte zu setzen und ihr Leben mit anderen Inhalten als dem Stadionbesuch zu füllen.“ Und wenn Helen Breit über Alternativen für die Zeit nach der Pandemie ohne Fußball nachdenkt, klingt das so: „Ich würde wohl auf ganz viele Konzerte gehen, und vielleicht würde ich mir auch nochmal ein paar andere Mannschaftssportarten anschauen.“ Gäbe es nicht dieses eine Problem: „Ich bin mir nicht sicher, ob es diesen einen Ersatz gibt, der mir all das gibt, was mir Fußball gibt: Vielfalt, Kreativität, Leidenschaft, Kommunikation, Freundschaft und Spaß.“

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