Solingen Der große Plan der autogerechten Stadt

Solingen · Wäre es nach den Verkehrsplanern der 60er Jahre gegangen, würden heute Autobahnen, Hoch- und Schnellstraßen die Stadt durchziehen. Bekanntlich kam es anders – eine Reise in die Zeit automobiler (Alp-)Träume.

 Auf einem Plan aus den 70er Jahren sind die Straßen eingezeichnet, die Solingen durchziehen sollten (Foto links). Viele Projekte wurden nicht verwirklicht – wie etwa die A 31, die am Gräfrather Ortskern vorbeigelaufen wäre. Ein Modell davon steht im Gräfrather Heimatmuseum (Foto unten).

Auf einem Plan aus den 70er Jahren sind die Straßen eingezeichnet, die Solingen durchziehen sollten (Foto links). Viele Projekte wurden nicht verwirklicht – wie etwa die A 31, die am Gräfrather Ortskern vorbeigelaufen wäre. Ein Modell davon steht im Gräfrather Heimatmuseum (Foto unten).

Foto: Stadtarchiv (1), Archiv, mak (1)

Wäre es nach den Verkehrsplanern der 60er Jahre gegangen, würden heute Autobahnen, Hoch- und Schnellstraßen die Stadt durchziehen. Bekanntlich kam es anders — eine Reise in die Zeit automobiler (Alp-)Träume.

Irgendwann war der Traum ausgeträumt. Wobei bis heute niemand so ganz genau sagen kann, wann die Stadtplaner erwachten — und wieso. Vielleicht war es ja schon Anfang der 70er Jahre, als die städtischen Beamten in ihrem Verwaltungsbericht noch spürbar ungläubig von etwas ganz Neuem, von einem plötzlich erwachenden Umweltbewusstsein schrieben. Es ist aber genauso gut möglich, dass der Traum erst ein paar Jahre später zerplatzte, zu einer Zeit, zu der sich auch in Solingen die ersten Bürgerinitiativen gründeten. Und am Ende kann ebenso wenig ausgeschlossen werden, dass die Stadtplaner nur zur Vernunft kamen, weil schließlich immer weniger Geld in den öffentlichen Kassen war.

Doch wann immer es gewesen sein mag: Die meisten Experten sind heute heilfroh, dass es nichts wurde mit dem autogerechten Solingen. Gerade noch rechtzeitig ließen die Stadt- und Verkehrsplaner von ihrem Vorhaben ab, das Stadtgebiet in ein Netz von Schnellstraßen, Umgehungstangenten und Autobahnen zu schnüren.

An einigen Stellen sind die Relikte dieses (Alp-)Traums von der perfekten Autostadt jedoch bis heute zu besichtigen. Beispiele sind die riesige Kreuzung am Schlagbaum und die Viehbachtalstraße zwischen der Stadtmitte und Ohligs. Aber es gibt auch noch andere, verstecktere Ecken, die von einem gar nicht so lange zurückliegenden Stück Solinger Verkehrsgeschichte erzählen.

"An der Wuppertaler Straße in Gräfrath existiert ein Grundstück, das nicht bebaut ist", sagt der Leiter des Stadtarchivs Ralf Rogge. Heute parkt ein benachbarter Autohändler seine Gebrauchtwagen auf dem Platz. Doch als die dort früher stehenden Häuser zu Beginn der 70er Jahre abgerissen wurden, hatten die Planer noch anderes im Sinn. Über das besagte Grundstück sollte einmal die Verlängerung der Viehbachtalstraße führen. Denn die heutige Solinger Stadtautobahn war einst als Teil von etwas weit Größerem gedacht.

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Autobahn a 54 Die "Vieh" sollte ein Stück jener Autobahn A 54 werden, die im Falle ihrer Realisierung ganz Solingen in West-Ost-Richtung zerschnitten hätte. Die Planungen sahen seit den 60er Jahren vor, die linke Rheinseite mit einer Trasse über das Kreuz Langenfeld an der A 3 sowie über die später tatsächlich gebaute Viehbachtalstraße mit der A 1 bei Remscheid-Lüttringhausen zu verbinden. Von dort aus wäre es dann weiter gegangen bis ins Sauerland.

Dazu hätten die Verkehrsstrategen aber die "Vieh" nicht allein über ihr heutiges Ende am Frankfurter Damm hinaus bis zur Wuppertaler Straße verlängern müssen. Vielmehr wäre die A 54 durch den gesamten Solinger Osten gelaufen — und hätte unweigerlich das Tal der Wupper zerschnitten.

Autobahn a 31 Wenige hundert Meter abseits der Wuppertaler Straße sollte dabei die West-Ost-Achse eine andere Autobahn kreuzen, deren Entwurf aus heutiger Sicht noch weit radikaler erscheint. Denn da die Verkehrsplaner mit einer ständig wachsenden Motorisierung rechneten, erachteten sie auch eine Nord-Süd-Verbindung, die A 31, für unerlässlich — eine Autobahn wohlgemerkt, die Teile Solingens endgültig in eine Asphaltwüste verwandelt hätte.

Ein großes Autobahnkreuz musste, so die Vorstellungen, ungefähr dort liegen, wo sich heute das Naherholungsgebiet Bärenloch ausbreitet. So hätte die A 54 einen direkten Anschluss an die A 31 bekommen. Diese Trasse war wiederum als Verbindung des Bergischen Landes mit dem Ruhrgebiet sowie zusätzlich mit Norddeutschland gedacht und wäre parallel zur ebenfalls schon damals geplanten und letztlich auch gebauten L 74 verlaufen.

Bereits in den 50er Jahren war die A 46, damals noch als Bundesstraße 326, fertiggestellt worden. Und nun sollte, von Norden kommend, die A 31 die A 46 in der Nähe der Auffahrt Haan-Ost treffen und dann an Burg vorbei bis Wermelskirchen weiterführen. In der Nachbarstadt wäre ein nächstes Kreuz — diesmal mit der A 1 — entstanden, von wo aus die A 31 ihren Weg weiter nach Süden genommen hätte. Das Besondere aus Solinger Sicht bestand bei diesem Projekt allerdings darin, dass die A 31 den Stadtteil Gräfrath praktisch geschliffen hätte. Denn die Planer hatten vor, die Autobahn direkt am historischen Ortskern vorbeizuführen.

Schlagbaum Eine Idee, die schließlich mit den anderen Vorhaben für die A 31 auf Solinger Stadtgebiet ebenfalls zu Grabe getragen wurde. Doch auch so sind bis in die Gegenwart die Überbleibsel jener verkehrspolitischen Aufbruchjahre der damals noch jungen Bundesrepublik in der Stadt zu bestaunen.

Das beste Beispiel ist der Schlagbaum. Was heute wie ein etwas zu groß geratener innerstädtischer Verkehrsknoten erscheint, sollte einmal Solingens Verbindung zur weiten Welt werden. Denn die Kreuzung Schlagbaum war als zentrale Autobahnanschlussstelle der Klingenstadt gedacht.

Aus diesem Grund wurden viele Häuser in der Gegend, die den Krieg überstanden hatten, seit den 50er Jahren abgerissen. Am Schlagbaum, dem nördlichen Ende der City, wollten die Planer die wichtigsten innerstädtischen Verkehrsachsen bündeln.

Die bis zum heutigen Tag nicht gebaute Westtangente hätte genauso am Schlagbaum geendet wie eine Ostumgehung, die nach einer Planung auf der Korkenziehertrasse entstehen sollte. Der Clou am Schlagbaum aber wäre eine Stelzenkonstruktion geworden, ähnlich dem gerade erst abgerissenen Tausendfüßler in Düsseldorf. Über diese Hochstraße sollten die Autos zu den nahe gelegenen Autobahnen A 54 sowie A 31 geleitet worden.

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Letzten Endes war es eine Bürgerinitiative, die all diese Pläne von der autogerechten Stadt nachhaltig erschütterte. 1974 verhinderten Anwohner den Bau jenes großen Solinger Autobahnkreuzes im Bereich Bärenloch. Und damit waren auch die Träume von all den anderen Verkehrsprojekten zu Ende. Denn ohne das Mega-Kreuz machten weder eine A 54 noch eine A 31 und auch der Solinger "Tausendfüßler" am Schlagbaum länger Sinn.

Natürlich wurden auch in den Folgejahren noch Straßen in Solingen gebaut. So entstand die Viehbachtalstraße, die wie gesagt einmal eine richtige Autobahn werden sollte, in ihrer heutigen Form erst in den 80er Jahren.

Aber die Phase eines ungebremsten Fortschrittsglaubens war Mitte der 70er dahin. Die Zeit, in der ein sozialdemokratischer Verkehrsminister Georg Leber noch jeden Bundesbürger in den Genuss eines Autobahnanschlusses in unmittelbarer Nähe zu seinem Wohnort kommen lassen wollte, neigte sich unwiederbringlich ihrem Ende entgegen. Leber war in den 60er Jahren Verkehrsminister der Großen Koalition in Bonn. In seinem Ressort entstand der sogenannte Leber-Plan, der auch Solingen zur beinahe flächendeckenden Asphaltierung vorsah.

Nur hatten sich rund zehn Jahre später eben die politischen Vorzeichen geändert — nicht nur in Solingen, doch auch hier. Die Studentenbewegung brachte den Protest in die Provinz. Und eine neue Angst vor einer umfassenden Umweltzerstörung trieb schließlich auch solche Menschen auf die Straße, für die wenige Jahre zuvor ein dergestaltes Engagement noch schier undenkbar gewesen wäre. "Die immer größer werdenden finanziellen Probleme taten dann ihr Übriges", sagt heute, in der Rückschau von fast 40 Jahren, der Solinger Stadtarchivar Ralf Rogge.

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Die Klingenstadt wurde so vor Einigem bewahrt. Denn die Wunden, die die Verkehrsutopisten der ersten Jahrzehnte nach 1945 in Solingen aufgerissen hätten, wären kaum noch einmal vernarbt. Die Stadt hätte ihr Aussehen, nach den vorangegangenen Verwüstungen des Krieges, auf dem Weg zu einem autogerechten Gemeinwesen wohl endgültig verändert — und eine städtebauliche Schönheits-OP wäre all dies für Solingen am Ende gewiss nicht geworden.

Gleichzeitig aber haben sich die Solinger mit den Relikten aus den Jahren des verkehrspolitischen Aufbruchs längst arrangiert — ja, die meisten haben sie sogar schätzen gelernt.

Als die Viehbachtalstraße im vergangenen Jahr zum Beispiel einige Monate geschlossen war, wurde dieser angebliche "Blinddarm" des Solinger Straßennetzes von den Pendlern und tausenden Anwohnern der überlasteten Ausweichstraßen schmerzlich vermisst. Und mancher träumt darum weiter davon, dass die "Vieh" eines Tages vielleicht doch bis zur A 3 verlängert wird. Ob es irgendwann so weit kommt und wann das ist, kann niemand sagen. Letzte Ausfahrt Ewigkeit — Träume leben oftmals ziemlich lange.

(RP)
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