Ahnenforschung am jüdischen Friedhof Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln

Rees · Mit Gründung einer Futtermittelfabrik prägte die jüdische Familie Wolff über Generationen die Geschäftswelt in Rees. 1936 emigirierte sie nach Brasilien. Nun kehrte Urururenkel Luiz Fernando Lins de Sousa zur Ahnenforschung zurück.

 Anaika Rodrigues (v.l.) und Luiz Fernando Lins de Sousa besuchten mit ihren Gastgebern den jüdischen Friedhof an der Weseler Straße. Der Grabstein von B.S. Wolff wurde beim Pogrom 1938 beschädigt.

Anaika Rodrigues (v.l.) und Luiz Fernando Lins de Sousa besuchten mit ihren Gastgebern den jüdischen Friedhof an der Weseler Straße. Der Grabstein von B.S. Wolff wurde beim Pogrom 1938 beschädigt.

Foto: Michael Scholten

Für Luiz Fernando Lins de Sousa war es ein höchst emotionaler Moment, erstmals an den Gräbern seiner Vorfahren zu stehen. Auf dem zweiten jüdischen Friedhof an der Weseler Straße wurden unter anderem seine Urururgroßeltern Benjamin Samuel und Jeanette Wolff sowie seine Ururgroßeltern Samuel und Dina Wolff beigesetzt. Sie alle prägten einst die Geschäftswelt und das gesellschaftliche Leben in der Rheinstadt. Gründete doch Benjamin Samuel Wolff im Jahr 1856 die Futtermittelfabrik B.S. Wolff, die sein Enkel Paul Wolff 80 Jahre später – als das Leben jüdischer Familien auch in Rees immer stärker reglementiert wurde – an die Familie Wentges verkaufte. Paul und Georgina Wolff wanderten im Juni 1936 mit ihren Töchtern Gerda, Lore und Inge nach Brasilien aus.

Paul Wolffs Urenkel Luiz Fernando Lins de Sousa wuchs in Rio de Janeiro auf, lebt seit zwei Jahren in Portugal und wollte nun endlich seine Wurzeln erforschen. „Ich war immer neugierig, aber meine Familie hat mir kaum etwas über die Zeit in Deutschland erzählt“, bedauert Luiz Fernando Lins de Sousa, der sowohl einen brasilianischen als auch einen deutschen Pass besitzt. Kaum in Brasilien eingetroffen, konvertierten seine Vorfahren zum christlichen Glauben. Sie ließen neben der deutschen Heimat auch die jüdische Tradition hinter sich. Mit Bernd Schäfer fand Luiz Fernando Lins de Sousa den optimalen Reiseführer. „Er weiß mehr über meine Familie als ich“, sagte der Besucher angesichts der vielen historischen Fotos und Dokumente, die der pensionierte Lehrer beim Rundgang durch Rees präsentierte. Die größte Überraschung: Vor fast 20 Jahren führte Bernd Schäfer auch schon die Tante des jetzigen Besuchers, Monika Amoral, und deren Sohn Roger durch die Rheinstadt.

Luiz Fernando Lins de Sousa und seine Frau Anaika Rodrigues gerieten durch Zufall an Bernd Schäfer. Nachdem sie den Flug gebucht hatten, suchten sie im Internet eine Bleibe am Niederrhein. Benny Klingbeil aus Mehrhoog lud zur privaten Übernachtung ein und stellte auf Reeser Facebook-Seiten die Anfrage, wer den Besuchern etwas über die Familie Wolff erzählen könne. Alle Kommentatoren waren sich einig: „Bernd Schäfer“.

Vom jüdischen Friedhof führte die Tour in die Reeser Oberstadt. Neben der ehemaligen Synagoge wohnte Paul Wolff mit Frau und Töchtern im Haus Nummer 14, bis sie 1936 nach Sao Paulo emigrierten. Aufgewachsen war Paul Wolff in der Dellstraße 2, gemeinsam mit seinen Eltern und den Schwestern Herta, Erna und Else. Herta wanderte nach Brasilien aus, Erna und Else wurden in Konzentrationslagern umgebracht. Zwei „Stolpersteine“ erinnern vor der heutigen Metzgerei Voß an das Schicksal der Schwestern.

 Mit Gründung einer Futtermittelfabrik prägte die Familie Wolff die Geschäftswelt in Rees.

Mit Gründung einer Futtermittelfabrik prägte die Familie Wolff die Geschäftswelt in Rees.

Foto: Bernd Schäfer

In der Straße Geldernsche Kay berichtete Bernd Schäfer, dass die Familie Wolff dort mehrere Häuser für die Arbeiter ihrer Futtermittelfabrik bauen ließ. „Es ist wie eine Zeitreise“, sagte Luiz Fernando Lins de Sousa beim Spaziergang durch die enge Gasse mit ihren alten Fassaden. Schritt für Schritt gewann er neue Erkenntnisse über die Vorfahren, deren gerahmte Fotos er schon als Kind oft betrachtet hatte: „Die Bilder standen bei uns zu Hause auf antiken Möbeln, die mein Urgroßvater Paul Wolff damals in Containern aus Rees mit nach Brasilien gebracht hatte.“

Die Futtermittelfabrik B.S. Wolff, später Wentges, konnte Luiz Fernando Lins de Sousa nicht mehr besuchen. Sie wurde in den 90er-Jahren abgerissen. An gleicher Stelle steht heute das Hotel Rheinpark. Paul Wolff kehrte 1955 noch einmal nach Rees zurück. Dort handelte er mit seinem Nachfolger eine Nachzahlung für die 1936 unter Druck der Nationalsozialisten weit unter Wert verkaufte Fabrik aus und ließ einen Grabstein für seine Eltern anfertigen. Im Pogromjahr 1938, als sein Vater Samuel starb, war ihm diese letzte Ehrung untersagt worden. Vor dem Grabstein platzierte Paul Wolff eine Gedenktafel für seine ermordeten Schwestern Else und Erna. In der neuen Heimat hatte er bis dahin die größte Futtermittelfabrik Brasiliens aufbauen können.

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