Wahrhaftige Bilder Porträts von Menschen und ihrer Heimat

Düsseldorf · Yolanda vom Hagen erkundet fremde Orte über Menschen, die dort zuhause sind. Das hat sie von Düsseldorf bis nach China geführt.

 Für die Serie „Bejing – Blue“ porträtierte Yolanda vom Hagen Passanten vor einem blauen Tuch und bat andere Passanten, das Tuch zu halten. So ergeben sich Bilder, auf denen zwei Menschen vor der Kamera posieren, zwei sich unbeobachtet fühlen.

Für die Serie „Bejing – Blue“ porträtierte Yolanda vom Hagen Passanten vor einem blauen Tuch und bat andere Passanten, das Tuch zu halten. So ergeben sich Bilder, auf denen zwei Menschen vor der Kamera posieren, zwei sich unbeobachtet fühlen.

Foto: Yolanda vom Hagen

Als Yolanda vom Hagen sieben oder acht Jahre alt war, fuhr sie in den Ferien in ein Jugendlager. Die Mutter schenkte ihr damals eine Ritsch-Ratsch-Einwegkamera. Ihr blieben 36 Versuche, ihre Ferienerlebnisse festzuhalten. „Ich erinnere mich an ein heftiges Gewitter in den Bergen und wie ich in der Nacht am Fenster hockte, um einen Blitz zu fotografieren“, sagt Yolanda vom Hagen und lächelt über das Kind, das plötzlich in ihrer Erinnerung auftaucht, „das wollte ich meinen Eltern unbedingt zeigen.“

Vielleicht hat ihre Karriere als Fotografin mit dieser Ritsch-Ratsch-Kamera begonnen. Jedenfalls hat sich Yolanda vom Hagen von da an immer wieder in unbekannte Räume vorgewagt und nach Momenten gesucht, die zeigen, was sie dabei erlebt. Dabei hat sie sich inzwischen weit von ihrer Heimatstadt Düsseldorf entfernt: Seit neun Jahren lebt und arbeitet die 36-Jährige in China, als Künstlerin und freie Fotografin hat sie sich in Shanghai niedergelassen. Die Sprache spricht sie inzwischen fließend.

Aufgewachsen ist vom Hagen in Flingern, in einem Haus, das heute ein Kunstort ist: in den oberen Etagen des Weltkunstzimmers an der Ronsdorfer Straße. Ihr Vater war Besitzer der Backfabrik, die früher dort untergebracht war. Beim Heimaturlaub im vergangenen Sommer hörte vom Hagen zufällig von einer Aufführung chinesischer Künstlerfreunde im Weltkunstzimmer – unter der Adresse ihres Geburtshauses.

„Mein Bruder und ich sind als Kinder in den Katakomben rumgestrichen und haben uns Mutproben aufgegeben“, erzählt vom Hagen, „eine bestand darin, beim Probenraum der Toten Hosen und anderer Metal-Bands die Tür aufzureißen und wieder wegzurennen.“

Als sie nun im Sommer Kunst sehen wollte und plötzlich in ihrem ehemaligem Zuhause stand, war das für sie aufregend und unheimlich zugleich. „Vieles erinnerte noch an früher, Kleinigkeiten, wie die Schrift meines Vaters auf Zetteln im Sicherungskasten“, erzählt sie. Zeit, vielmehr das Vergehen von Zeit zu dokumentieren, ist auch ein Motiv in den Arbeiten von Yolanda vom Hagen. Während ihres Studiums an der Fachhochschule in Dortmund nahm sie an einem Projekt teil, für das 13 chinesische und 13 deutsche Studenten in einer stillgelegten Zeche in Recklinghausen lebten und arbeiteten. Gemeinsam sollten sie Bilder des Ruhrgebiets entwickeln. Vom Hagen dokumentierte Menschen und Architektur an einer Durchgangsstraße in Herten. Sie fotografierte die Zechenhäuser und deren Bewohner und fügte beides in ruhigen Querformaten zusammen. Das war 2005. Zehn Jahre später tat sie dasselbe wieder. Inzwischen waren Kinder erwachsen, Eltern alt geworden, auf manchen Bildern fehlen Menschen. „Karlstraße“ hat sie diese Arbeit genannt, das Ruhrmuseum in Essen hat ein paar Aufnahmen davon in die ständige Gegenwartsausstellung aufgenommen.

Das Projekt hat nicht direkt dazu geführt, dass vom Hagen nach China gegangen ist. Aber sie war offen dafür, als sich während ihres Studiums die Möglichkeit bot, ein halbes Jahr zum Austausch nach Bejing zu gehen. Vom Hagen tauchte im Wintersemester 2006 tief ein in die neue Kultur und Sprache, verbrachte Studium und Freizeit mit Chinesen und verlängerte gleich um ein halbes Jahr. „Die erste Zeit in China war für mich die glücklichste meines Lebens“, sagt sie, „ich habe mich sehr willkommen, ja, geborgen gefühlt.“

Zurück in Deutschland traf vom Hagen auf viele Vorurteile gegenüber China. „Mir begegneten immer dieselben Themen: Menschenrechte, Luftverschmutzung, aber keiner will wissen, wie die Menschen eigentlich leben und was sich im Land verändert“, sagt sie. Aus dieser Erfahrung hat vom Hagen 2008 ihr Diplomthema entwickelt: „Bejing – Blue“. Dafür hat sie fremde Menschen auf der Straße um ein Porträt gebeten. Mit dabei hatte sie ein blaues Tuch, vor dem die Porträtierten stehen sollten. Die Fotografin bat andere Passanten, dieses Tuch zu halten – so entstanden Doppelporträts von Menschen, die posieren und solchen, die sich unbeobachtet fühlen. „Mir ging es um ein wahrhaftigeres Chinabild“, sagt vom Hagen, „um Unvoreingenommenheit.“

Das Diplom in der Tasche nutzte vom Hagen die erste Chance, nach China zurückzukehren. 2010 war die Expo in Shanghai. Vom Hagen wurde die offizielle Fotografin des deutschen Pavillons und lebt seither in der 24-Millionen-Einwohner-Stadt, die ständig weiterwächst. Neue Viertel mit Wohnblocks schießen in die Höhe. Vom Hagen wohnt noch in einem der alten „Lane-Houses“, die an kleineren Seitenstraßen liegen, und von den Franzosen in den 1920er Jahren gebaut wurden.

Als Künstlerin wagt vom Hagen Experimente mit der Kamera. So hat sie etwa Menschen porträtiert, denen sie scharfes Wasabi zu essen gab, um sie aus ihrer gewohnten Rolle zu locken. Für ein anderes Projekt hat sie mit Menschen vor der Kamera meditiert. Sie sollten an einen glücklichen Moment mit einem Menschen denken, den sie verloren haben. In ihrer aktuellen Arbeit beschäftigt sich sich mit der Frage, welche Netzwerke Menschen Halt bieten, die für Jobs in die globalen Mega-Citys gehen und dafür die traditionellen Bindungen in der Familie aufgeben. In einem Videoexperiment untersucht sie, wie verlässlich solche Bindungen tatsächlich sind.

„In der globalen Welt gibt es viele junge, gut vernetzte Menschen, für die Einsamkeit trotzdem – oder vielleicht deshalb – ein Thema ist“, sagt vom Hagen. In der Öffentlichkeit werde aber vorwiegend über Vereinzelung im Alter nachgedacht. Sie selbst weiß, wie einsam man in einer Millionenmetropole sein kann. Mit diesen Erfahrungen setzt sie sich künstlerisch auseinander. Wie damals als Kind, als sie ihre ersten Fotos von einem Gewitter machte.

(dok)
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