Studieren hinter Gittern Wie Gefangene ihr Leben umkrempeln

Gelsenkirchen · Wie finden Sträflinge nach einer langen Haft ins normale Leben zurück? Damit sie später gut zurechtkommen, müssen sie sich darauf vorbereiten. In Gelsenkirchen geht das mit einem Studium. Büffeln für den Hochschulabschluss - hinter Gittern ist das nicht einfach.

Häftling Bernd Müller (Name geändert) sitzt in der Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen vor einem Bildschirm.

Häftling Bernd Müller (Name geändert) sitzt in der Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen vor einem Bildschirm.

Foto: dpa/Marcel Kusch

Nach dem Frühstück setzt sich Andreas Meier gerne gleich an den Schreibtisch. Er hat noch Aufgaben zu erledigen - Mathe, Statistik, für die Uni. Nicht immer sind die einfach. Aber er macht sie doch gerne. Andreas Meier heißt eigentlich anders. Der Mittvierziger möchte anonym bleiben, denn sein Schreibtisch steht in einer Zelle der Justizvollzugsanstalt (JVA) Gelsenkirchen. Vier Jahre muss er einsitzen, die Hälfte hat er hinter sich. Die Zeit nutzt er für ein Studium.

Seit Sommer 2018 können Inhaftierte in Gelsenkirchen studieren. Bachelor, Master oder sogar eine Dissertation sind möglich. Die Idee dahinter: Menschen in Haft zu stärken und besser auf ein Leben danach vorzubereiten. „Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient dem Ziel, Gefangene zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“, heißt es schon im ersten Paragrafen des Strafvollzugsgesetzes. Annabella Emas, die in der JVA Gelsenkirchen für die Organisation des Studiums verantwortlich ist, weiß: „Gerade Bildung kann vor einem Rückfall schützen.“

Gefangene haben keinen Internet-Zugang

In Gelsenkirchen gibt es derzeit zwei Studenten. Andreas Meier, der Wirtschaftswissenschaften studiert, und Bernd Müller, der auch anders heißt, und sich für Kulturwissenschaften entschieden hat. Grundsätzlich stehen den Inhaftierten alle Studiengänge zur Auswahl, die die Fernuniversität Hagen, über die das Studium läuft, anbietet. Außer etwa Informatik - aus technischen Gründen.

Denn freien Zugang zum Internet haben die Inhaftierten nicht. Über einen besonders geschützten Zugang können sie auf die E-Learning-Systeme der Fernuni zugreifen. Die Seiten sind gespiegelt - so können die Studierenden aus der JVA keinen Kontakt zu Kommilitonen oder Dozenten aufnehmen - das läuft über Annabella Emas. Auch wenn sie Bücher und andere Quellen brauchen, etwa für Hausarbeiten, muss Emas diese für die Häftlinge bestellen und sichten.

Voraussetzung für das Studium sind von Seiten der Uni die gleichen wie für jeden anderen Studienanwärter auch - das Abitur oder eine abgeschlossene Ausbildung mit Berufserfahrung. „Für uns sind die Inhaftierten wie alle anderen Studierenden“, sagt Stephan Düppe, Sprecher der Fernuni Hagen.

In der JVA gebe es aber noch andere Bedingungen. Wer das Privileg eines Studiums in Anspruch nehmen will, muss sich bewähren. Es sollte etwa keine „disziplinarischen Probleme geben“, sagt Emas. Außerdem müssen die Studierenden viel Zeit miteinander verbringen - mindestens zweimal pro Woche geht es in den Studienraum mit den Computern. Dort geben sie die Aufgaben, die sie in ihrer Zelle erledigt haben, in das Computersystem ein, überprüfen, was sie richtig gemacht haben. Es sei wichtig, dass sie sich gut verstehen. Die beiden Sträflinge, die momentan studieren, kämen gut miteinander zurecht. Komme jemand Neues dazu, müsse der auch ins Gefüge passen. Sollten auch Frauen in der JVA studieren wollen, müsste das extra organisiert werden - zusammen mit den Männern dürften sie nicht lernen, sagt Emas.

„Das Studium war meine Rettung“

Die Straftat, der Grund, warum sie hier sind, spielt aber keine Rolle. Meier sitzt wegen Eigentumsdelikten, Müller ist zu lebenslanger Haft verurteilt. Tötungsdelikt. Für beide sei das Studium eine Perspektive, ein Weg, zu sich zu finden und mit der Situation, dem Eingesperrt-Sein, zurechtzukommen. „Ich hatte am Anfang viele Probleme, mich einzugewöhnen. Ich bin geschwommen“, sagt Meier. Durch das Studium habe er sich wieder auf etwas konzentrieren können, etwas gefunden, wofür er gerne aufsteht. „Das Studium war meine Rettung“, sagt Meier.

Auch seinem Kommilitonen Bernd Müller geht es so. Längere Zeit sei er ohne Arbeit gewesen. Nun sei er froh, sich mit Literatur und wissenschaftlichen Texten zu beschäftigen. „Das wird nicht so schnell eintönig, so viel mit dem Kopf zu arbeiten“, sagt er. Auch wenn ihm das am Anfang schwer gefallen sei - er ist um die 60 Jahre alt.

Für Meier ist aber vor allem die Perspektive für später wichtig. Vor seiner Verurteilung sei er selbstständig gewesen, habe auch mit Mitte 20 schon einmal ein Studium begonnen. Vielleicht, so hofft er, hilft ihm der Abschluss, nach der Haft wieder Fuß zu fassen. „Auch wenn ich realistisch bin. Es wird schwierig“, sagt Meier.

Bezahlen müssen die Studierenden für das Studium in der Regel nicht. „Das könnte sich kein Inhaftierter leisten“, sagt Emas. Außer, jemand sei vermögend. Stattdessen wird das Studium wie andere Beschäftigungen in Haft behandelt - die Gefangenen verdienen dabei Geld für später.

(hsr/dpa)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort