Rheinische Pioniere (8) Ulla Hahn - Chronistin des Rheinlands

Monheim · Die aus Monheim stammende Dichterin und Erzählerin Ulla Hahn hat mit ihrer Roman-Trilogie unserer Region ein Denkmal gesetzt.

 Ulla Hahn ist eine rheinische Existenz geblieben und kehrt oft hierhin zurück - etwa zur Rheinuferpromenade von Düsseldorf.

Ulla Hahn ist eine rheinische Existenz geblieben und kehrt oft hierhin zurück - etwa zur Rheinuferpromenade von Düsseldorf.

Foto: Andreas Bretz

"Lommer jonn." - Und Ulla Hahn ging und wäre beinahe dem Rheinland ganz verloren gegangen. Als sie Anfang der 80er aus dem kleinen Monheim am Rhein in die vermeintlich große Welt aufgebrochen ist. Das bedeutete vor allem die Welt des Denkens und Lesens und Schreibens. Zunächst ging es dafür ja nur einen Katzensprung weiter, zum Studium nach Köln gleich nebenan. Dem überschaubaren Schritt sollten größere folgen und mutigere: Sie wurde Lehrbeauftragte an den Universitäten von Hamburg, Oldenburg und Bremen und dort auch Literaturredakteurin beim Radio. Da ist Monheim schon weit weg gewesen in ihrem Leben. Und es wurde vielleicht noch etwas ferner, als sie selbst ihre Welt zu bedichten begann. Gleich von Beginn an war sie eine "große Nummer", entdeckt und gefördert von keinem Geringeren als Marcel Reich-Ranicki. Der Kritiker hatte sich nicht getäuscht. Ulla Hahn gilt seit ihrem ersten Gedichtband "Herz über Kopf" als eine der wichtigsten Lyrikerinnen der Gegenwart.

"Lommer jonn." Damit wäre die rheinische Geschichte der Ulla Hahn auch schon beendet gewesen - als Legende von einer, die auszog, das Leben und Dichten zu lernen. Zurückgekehrt ist die 68-Jährige bis heute nicht. Eine echte Hamburgerin wurde sie stattdessen, verheiratet mit dem früheren hansestädtischen Bürgermeister Klaus von Dohnanyi.

Ulla Hahns unerwartete Heimkehr ist dann aber viel zauberhafter geworden. Weil sich die Dichterin in die Jahre ihrer rheinischen Kindheit, Jugend und jetzt auch Studentenzeit zurückgeschrieben hat. Auf ihren Worten ist sie von der Elbe an den Rhein gereist. Als vor 13 Jahren "Das verborgene Wort" erschien, staunten nicht nur ihre Leser über das Buch. Denn die Lyrikerin hatte sich in eine Erzählerin verwandelt und einen Roman mit 600 frischen und selbstgewissen Prosaseiten geschrieben.

Was für eine literarische Entdeckung; und was für ein Erfolg: Über 500 000 mal verkaufte sich ihr Entwicklungsroman. Er beginnt und endet so, wie auch die beiden nachfolgenden Erinnerungsromane beginnen und enden - mit den Worten des Großvaters, "Lommer jonn." Das war die Aufforderung für das Kind, mit ihm an den nahen Rhein zu gehen, dort Geschichten zu erzählen und nach schönen "Boochsteenen" zu suchen, nach echten Buchsteinen.

"Lommer jonn." "Aufbruch" heißt der zweite und "Spiel der Zeit" der erst vor wenigen Tagen erschienene dritte Band. Aber von was eigentlich? Denn eine Autobiografie ist im strengeren Sinne keins dieser Bücher. "Roman" steht auf jedem dickleibigen Band. Die Ich-Erzählerin, ein "Kenk vun nem Proleten", heißt Hilla Palm, nicht Ulla Hahn; und der Ort ihrer Herkunft soll das fiktive Dondorf am Rhein, nicht Monheim sein.

Alles ein bisschen Augenwischerei und ein literarisches Versteckspielchen, zu dem Schriftsteller mitunter neigen? Keineswegs. Ulla Hahn ist mit Hilla Palm so eng verbunden wie mit ihrer eigenen Vergangenheit. "Ich bin meine Geschichte", schreibt Hahn. "Ich bin meine Vergangenheit. Nicht: Ich habe eine Vergangenheit. Wie einen Besitz, einen Stuhl, ein Kleid, ein Buch, ein Haus."

Das ist ernst zu nehmen und betrifft uns alle. Sich zu erinnern kann immer nur der Versuch sein, das Vergangene irgendwie zu verstehen. Und dafür schickt Ulla Hahn ihre Hilla Palm ins Rennen. Lässt sie groß werden in diesem kleinen Monheimer Arbeiterhäuschen, lässt sie träumen, lieben und leiden, lässt sie verzweifeln am Leben und jubeln vor Glück und Hoffnung.

Die 1800 Seiten der drei Romane sind eine vitale Geschichte des Rheinlands von den 50er Jahren bis zu den Studentenprotesten. Mit all den Abschieden und Anfängen. Kurz bevor Hilla nach Köln und zum studentischen Leben aufbrechen wird, hört sie daheim noch einmal wohlbekannte Geräusche durch die offene Küchentür: "Feuchte Hände klatschen auf den Teig. Die Großmutter beim Backen. Ein Anblick, der zum Samstag gehörte wie das Öllämpchen unter dem Jesuskreuz." Und dann wird die kleine Hilla nach Köln aufbrechen und auch politisch denken lernen. Auf Demos findet sie sich plötzlich wieder; und die erste richtet sich gegen die Fahrpreiserhöhung der KVB. Das ist erst der Anfang einer Politisierung; zeitweise steht die Studentin sogar an der Seite der Deutschen Kommunistischen Partei.

"Lommer jonn." So richtig begreift man erst mit dem dritten Band, welches unglaubliche erzählerische Universum Ulla Hahn uns geschrieben hat: eine Chronik der Rheinlande, ein Kompendium der "Milljöhs", eine Anthologie der Menschen. Vergleichbares gibt es nicht und Eindringlicheres auch nicht. Vieles von dem mag inzwischen untergegangen und vergessen worden sein. Aber in dieser Trilogie wird alles sicherer und unverfälschter verwahrt als auf jedem Server. Wir erfahren, wie es war und vielleicht auch ist, in einer Arbeiterfamilie und somit sozial unterhalb der Angestellten aufzuwachsen. Aber: "Die Bindung an die Kirche schaffte einen Ausgleich. Man fühlte sich nie minderwertig, das heißt, weniger wert als die sozial Höhergestellten, solange man sich anständig verhielt; anständig als Bürger und als Kind Gottes", so Ulla Hahn.

Die Dichterin erzählt mit ihrem erinnerten Leben aber auch davon, wie wichtig und wesentlich Literatur und Kunst für die Entwicklung eines Menschen sein können: "Menschsein heißt mehr als Funktionieren. Kunst hilft, die Sehnsucht wachzuhalten, nach dem, was wir nicht sind und haben; Sehnsucht nach einem Ort, wo Freiheit und Gerechtigkeit kein Widerspruch mehr sind".

Ulla Hahn ist mit ihren drei Romanen - denen wenigstens noch ein vierter folgen soll - nach Monheim heimgekehrt. Und die Stadt hat sie herzlich willkommen geheißen. Das Elternhaus von Ulla Hahn, ein kleines Arbeiterhäuschen von 1913 an der Neustraße 2, war schon seit längerem im Besitz der Stadt. Mal diente es als Hausmeisterwohnung, dann als Lagerstätte. Als vor fünf Jahren die Stadt auch die zweite Reihenhaushälfte kaufte, war der Weg frei zur Einrichtung eines weithin einmaligen Literaturhauses, das natürlich den Namen der Dichterin trägt. Seit einem Jahr gibt es dort Leseclubs und Schreibwerkstätten für Jugendliche und Vorlesetheater für die Kleinsten.

Mehrere hundert Jugendliche widmen sich dabei aber nicht so sehr dem Andenken einer großen rheinischen Schriftstellerin, sondern vor allem der Literatur. Die ist kein Schlüssel zum Erfolg, doch kann sie Wegweiser sein zu einem selbstbestimmten Leben, so, wie es die Geschichte Hilla Palms erzählt.

Auch mit ihr ist Ulla Hahn eine Rheinländerin geblieben; sie schätzt ihre frühere Heimat, mag Düsseldorf und besonders Köln, wo ihr Bruder lebt. Dass sich ihr kleines Elternhaus und damit die Stätte ihrer Kindheit plötzlich in ein Literaturforum verwandelt hat, lässt in Ulla Hahn keine wehmütigen Gefühle zurück. "Ich bin ja auch nicht mehr die Frau von früher."

Darum sind es auch keine rheinischen Idyllen, die uns ihre Romane präsentieren. Es ist das Leben mit seinen Rissen und Brüchen, mit seinen Untiefen und Höhen, von denen so anteilnehmend erzählt wird. Denn ohne das geht es bei Ulla Hahn nicht - ohne ihre Sympathie für die Menschen: "Der Rheinländer sagt sich, et kütt, wie et kütt und et hätt noch immer jot jejange. Das meint ein Urvertrauen in sich und in den lieben Gott, und das ist, glaube ich, ziemlich identisch."

Lommer jonn.

(RP)
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