Berlin Theatertreffen: vitale Provinz

Berlin · Düsseldorf darf sich freuen: Mit Nurkan Erpulat hat das Schauspiel den umjubelten Regisseur des diesjährigen Berliner Theatertreffens als neuen Hausregisseur verpflichtet. Erpulats "Verrücktes Blut", eine politisch äußerst unkorrekte Amok-Komödie vom Zusammenprall der Kulturen, bei der eine Lehrerin mit gezückter Waffe ihre lern- und integrationsunwilligen Schüler dazu zwingt, korrektes Deutsch zu sprechen und sich mit Friedrich Schiller und den Werten der Aufklärung zu beschäftigen, ist das heiß diskutierte Highlight des Festivals. Die Koproduktion vom Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße und der Ruhrtriennale wirkt für viele Beobachter wie ein Befreiungsschlag in Zeiten verschärfter Sarrazin-Debatten über die angebliche Abschaffung der deutschen Leitkultur.

Die zehn, von einer Kritiker-Jury als "bemerkenswert" ausgewählten Aufführungen haben das Leitmotiv "Alles neu, alles anders": Es ist ein Theatertreffen der Überraschungen. Ob Kammerspiele oder Residenztheater aus München, Schauspielhaus oder Thalia Theater aus Hamburg, Schaubühne, Deutsches Theater oder Volksbühne aus Berlin: Keine Inszenierung der Bühnen, deren Teilnahme am Theatertreffen fast selbstverständlich erschien, hat diesmal die Gnade der Jury gefunden. Ebenso erging es Regie-Größen wie Frank Castorf oder Christoph Marthaler, Thomas Ostermeier oder Michael Thalheimer. Dafür stehen jetzt Namen wie Karin Beier und Karin Henkel, Roger Vontobel oder Werner Fritsch sowie Bühnen aus Köln und Oberhausen im Vordergrund. Nach jahrelanger Missachtung hat sich die Jury auch endlich wieder auf die beschwerliche Reise in den "wilden Osten" gemacht und Inszenierungen aus Schwerin und Dresden zur Theater-Olympiade eingeladen.

Auch ist sie in der Off-Szene fündig geworden: "Testament" heißt die Inszenierung der Gruppe She She Pop, eine Koproduktion von Kampnagel Hamburg, dem Berliner Hebbel am Ufer und dem Düsseldorfer Forum Freies Theater. Auf der Folie von Shakespeares "König Lear" werden Fragen von Alter, Erbschaft und dem Zusammenleben von Jung und Alt verhandelt. Es spielen nicht nur Mitglieder von She She Pop, sondern auch deren Väter: Eine irritierende, manchmal peinliche, zwischen Familienalltag und Tragödienkunst pendelnde Performance.

Während Nurkan Erpulats "Verrücktes Blut" durchweg euphorisch aufgenommen wird, ist das Publikums-Echo auf die meisten anderen Inszenierungen ambivalent. Den aus Köln kommenden, von Karin Henkel inszenierten "Kirschgarten" empfinden manche als bunte Zirkusnummer, andere als plausible Möglichkeit, Tschechows russische Melancholie komödiantisch in die Gegenwart zu holen.

In der von Werner Fritsch gezeigten Oberhausener "Nora" sehen einige das zeitlose Drama einer von männlicher Arroganz verletzten Frau, andere rümpfen über den bizarren Horrorfilm im märchenhaften Puppenhaus die Nase. Und während die einen an Roger Vontobels Dresdner "Don Carlos" die texttreue Präzision loben, gilt die Inszenierung anderen als bieder. Aber die bissige Kritik und die berechtigten Zweifel an der Auswahl gehören zum alljährlichen Ritual.

Das vorläufige Fazit lautet: Es ist ein ebenso überraschendes und vielstimmiges wie anregendes und innovatives Festival. Und ein Publikumsmagnet mit völlig ausverkauften Vorstellungen. Am Wochenende wird das Treffen mit einer Hommage an Christoph Schlingensief zu Ende gehen. "Via Intolleranza", Schlingensiefs letzte Theater-Performance, ist ein beklemmender Abgesang auf seine Idee eines Operndorfes in Afrika. Schlingensiefs Ekel vor Bevormundung und Gutmenschentum ("Ich kann diese ganze Knuddelei nicht mehr ertragen") wird bei der Schluss-Inszenierung des Theatertreffens allerdings ein Double aussprechen müssen.

(RP)
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