Der Fall Strauss-Kahn und die Literatur Im Fegefeuer der US-Gerichte

Düsseldorf · Die Verhaftung des ehemaligen IWF-Chefs Dominique Strauss-Kahn in New York kommt vielen vertraut vor: aus den Geschichten der berühmten amerikanischen Justizthriller von Tom Wolfe, John Grisham und Harper Lee. Darin geht es hochspannend stets um eins: das Selbstverständnis eines Landes.

Anne Sinclair - Gattin von Dominique Strauss-Kahn
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Am Anfang der modernen amerikanischen Literatur steht der Moral-Monolog eines Jungen: "Was für einen Sinn hat es", denkt sich Huckleberry Finn, "das Rechte zu tun, wenn es Mühe macht, und es keine Mühe macht, das Unrechte zu tun, und am Ende kommt es auf das Gleiche raus." Und er beschließt, "ab jetzt immer das zu tun, was am besten taugt".

Das sind die nur scheinbar naiven Gedanken eines Kindes. Mark Twain (1835—1910) aber lässt seinen Helden Grundlegendes formulieren: Er macht aus dem Recht eine Gewissensentscheidung und postuliert in den Abenteuergeschichten von Huck Finn und Tom Sawyer ein pragmatisches Naturrecht, nach dem alle Menschen gleich sind und alle die gleichen Rechte haben.

In Handschellen und unrasiert

Das ist dreifach bedeutsam: für Twain, die amerikanische Literatur und schließlich für das amerikanische Rechts- und Selbstverständnis. Von hier führt eine zugegebenermaßen recht lange Linie zum IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn (DSK), zu seiner Verhaftung, zu den Bildern des unrasierten, fast schon gebrochenen Häftlings, zu den Handschellen und auf Rikers Island, wo der unter Vergewaltigungsverdacht Stehende in einer Einzelzelle einsitzt.

Als bei uns die Bilder der Verhaftung vom damaligen Post-Chef Klaus Zumwinkel öffentlich wurden, entbrannte sofort eine Diskussion über diese Form einer möglichen medialen Vorverurteilung. Undenkbar in Amerika. Hier ist alles öffentlich, weil sich das Recht ohne Ansehen der angeklagten Person auch in der Öffentlichkeit zu bewähren hat: Die Teilhabe aller am Recht ist ein mentaler Grundpfeiler des Landes. Denn Gerichte sind Schauplätze eines Wertekampfes, in dem über Gut und Böse befunden wird.

Solche Entscheidungsorte sind gute, dramatische Schauplätze für die Literatur. Und kein anderes Land hat so viele und vor allem so legendäre Justizthriller hervorgebracht. Scott Turows "Aus Mangel an Beweisen" verkaufte sich über 4,3 Millionen Mal; andere Werke sind uns filmisch immer noch gegenwärtig: Billy Wilders "Zeugin der Anklage" oder auch Sidney Lumets "Die zwölf Geschworenen" (beide von 1957). Die Dramen, die sich ereignen, verdanken ihren Reiz auch der besonderen Inszenierung — die Rededuelle vor den Geschworenen aus dem Volk, die nicht selten über Leben und Tod tatsächlich zu richten haben. Und eingebrannt haben sich uns die Gesichter jener modernen Helden, die unerbittlich zum Kampf für die Wahrheit antreten. In historischer Variante steht uns Gregory Peck vor Augen, in jüngerer Aufmachung Tom Cruise.

Macht, Sex, Medienrummel

Im aktuellen Fall des IWF-Chefs scheint die Literatur sogar direkte und passgenaue Vorlagen zu liefern. Insbesondere Tom Wolfes "Fegefeuer der Eitelkeiten" wirkt in diesen Tagen wie ein vorausgeeilter Schlüsselroman mit seiner Geschichte von einem Banker, einer Sexaffäre, um ein schwarzes Opfer, um den Medienrummel. Es ist, als würde die Wirklichkeit nun nachträglich die Literatur einholen. In der Verbindung von Rassismus und Sex als Gewaltmittel der Unterdrückung kann auch John Grishams "Jury" als dienliche Lektüre gelten; in Detailfragen lassen sich zum gegenwärtigen Fall aber auch "Die Firma", "Die Akte" und andere Grisham-Thriller zu Rate ziehen.

Es wundert daher wenig, dass vor Gericht auch das meistgelesene Buch der Vereinigten Staaten spielt — vor zwei Jahren landete es in der ewigen Bestsellerliste des Landes auf Platz eins, noch vor der Bibel: "Wer die Nachtigall stört . . ." von Harper Lee. Darin wird über einen Schwarzen verhandelt, der zu Unrecht der Vergewaltigung einer Weißen beschuldigt wird. Es ist bei dem in 40 Sprachen übersetzten, unsterblichen Roman von 1960, als ginge es in diesem stickigen kleinen Gerichtssaal von Maycomb um das Schicksal eines Landes: "Unsere Gerichte haben ihre Unzulänglichkeiten wie jede andere menschliche Institution, aber in diesem Lande sind sie die großen Gleichmacher, und vor ihnen sind alle Menschen gleich." Das ist kein Plädoyer, das der aufrechte Pflichtverteidiger Atticus Fink da verkündet; es ist eine Präambel zur Verfassung.

Ob DSK diese Romane kennt? Ob er Zeit und Gelegenheit findet, sie auf seiner Gefängnisinsel auch zu lesen? Es dürfte dem Angeklagten indes nicht allzu sehr helfen, denn letztlich ist es die Wirklichkeit und keine literarische Vorlage, die das Urteil fällen wird. Ohnehin geht es für die Angeklagten in den meisten Justizthrillern nicht eben gut aus.

(RP)
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