Gigant der Musikgeschichte Charlie Parker - Der erste Revolutionär des Jazz

New York · Vor 100 Jahren wurde der große Saxofonist Charlie Parker geboren. Er war einer der Wegbereiter des modernen Jazz. Sein Leben war allerdings eine mörderische Achterbahnfahrt. Er starb 1955 mit nur 34 Jahren in New York.

Charlie Parker während eines Auftritts im New Yorker Jazzclub „Three Deuces“ im August 1947.

Charlie Parker während eines Auftritts im New Yorker Jazzclub „Three Deuces“ im August 1947.

Foto: dpa

Bitte anschnallen und das Rauchen einstellen, denn jetzt geht die Post ab, und Sie brauchen viel Luft. Am meisten Luft brauchte damals der Erfinder des Jazzstandards, der ihn berühmt machte. Es handelt sich um den Saxofonisten Charlie Parker, und das Stück beginnt so: Bb6 GMI7 CMI7 F7. Wer’s lesen kann, erkennt es sofort, für alle anderen hier die Auflösung: Es sind die unverwüstlichen Harmonien (B-Dur, g-Moll, c-Moll, F-Dur, die meisten als Septakkorde) des Beginns von Gershwins „I Got Rhythm“. Es lebt in zahllosen späteren Stücken gleichsam als Urformel weiter – so auch in Parkers abgefahrener Bebop-Nummer „Anthropology“.

Es gibt da einen Mitschnitt vom 5. März 1949 aus dem New Yorker Hotel Waldorf-Astoria, da spielt Parker mit seinem Septett „Anthropology“ in einem solchen Affenzahn, dass ein Youtube-User in einem Kommentar schreibt: „Um überhaupt etwas zu begreifen, muss man das im halben Tempo abspielen!“

Dieser Satz könnte auch über Parkers Kunst und seinem Leben stehen. Es ging alles mit wahnsinniger Beeilung vonstatten, denn er hatte wie viele Genies nur wenige Jahre, genauer gesagt: 34. Drogen, Alkohol, Unmäßigkeiten, kaputte Beziehungen, Verwahrlosungen, schizophrene Phasen, Selbstmordversuche – das musste Spuren hinterlassen. Als er knapp eine Woche nach seinem letzten Auftritt (den gab er in dem nach ihm benannten New Yorker Club „Birdland“) am 12. März 1955 starb, sagte er Arzt, als er den Totenschein ausstellte: „Sein Körper ist 20 Jahre älter.“

Woody Allen, der fleißige Hobbyklarinettist, schrieb in seiner Autobiografie, Charlie Parker habe „das Leben jedes Saxofonisten nach ihm ruiniert“. Diese Formulierung ist vieldeutig. Sie beschreibt die Meilensteine, die Parker in den Boden rammte, indem er den gepflegten tanzbaren Swing auf eine höhere, fast irreale Aggregatstufe stellte. Zugleich war das Vorbild Parker eine zwiespältige Erscheinung, das merkte jeder, der mit ihm Kontakt hatte. Miles Davis, der früh an Parkers Seite spielte, hat diesen Einschnitt präzise formuliert. Die Geschichte des Jazz, sagte er später, lasse sich in vier Worten erzählen: „Louis Armstrong. Charlie Parker.“

Es war indes Armstrong, der kein Sensorium für Parker hatte: Ihn störte, dass der Bebop – an dem neben Parker ja auch dessen Kumpel und Kollege Dizzy Gillespie prägend mitwirkte – „Melodiösität und Tanzbarkeit“ vermissen ließ. Genau darum ging es: Die Musik war plötzlich elementar, eine Naturerscheinung. Und hört man heute, wie der 1920 in Kansas City geborene Parker, seine Soli anlegte, so wird Armstrongs Verdruss verständlich.

Parker war kein Melodiker, eher ein Dramatiker, ein Derwisch, doch wenn man seine Improvisationen analysiert, die er in Up-Tempo-Manier über altbekannte Changes (Harmoniefolgen) aus sich sprudeln ließ, so muss man ihnen maximale Geschliffenheit zubilligen. Parker spielte ja sehr trocken, unspektakulär, ohne sentimentalen Bodensatz aus der Kanne. Der Wiener Musikkritiker Ljubisa Tosic formuliert das sehr eindrücklich so: „Trotz der Virtuosität, die alles vormals Erspielte wie eine gemütliche Kutschenfahrt wirken ließ, berückt Parkers Eleganz der Ideen.“

Parker als Saxofonist war zweifellos eine Kapazität, die befruchtend auf alle Nachfolger wirkte, mochten sie sich noch so sehr in andere Richtungen verlieren. John Coltrane, Lee Konitz, Sonny Rollins, Stan Getz, Archie Shepp, Wayne Shorter, sogar David Sanborn – sie alle fanden ihren eigenen Stil, ihren eigenen Ton, doch in ihren glühenden, hitzigen Momenten konnte man ahnen, dass Parker es war, der ihnen aus der Vergangenheit das Feuer des Prometheus spendete.

Die Pointe gerade im Jahr 2020 ist diese: Der Schriftsteller Jack Kerouac notierte nach Parkers Tod, er sei „musikalisch so wichtig wie Beethoven“. Dieser Ritterschlag ist an der Musikwelt fast ohne Echo vorbeigegangen. Heute aber wollen wir rufen: Hören Sie Charlie Parker! Und fangen Sie am besten mit „Anthropology“ an! Den Anfang kennen Sie ja jetzt.

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