Literaturgeschichte Jetzt wird Tag und Nacht gelesen!

Düsseldorf · Corona-Zeit ist Lesezeit. Warum also nicht querbeet durch die deutschsprachige Literatur seit 1945? Mit vielen Seh- und Buchtipps wollen wir dazu ermuntern. Teil zwei unserer Reihe über „Kulturgeschichte im Videoformat“.

 Günter Grass.  Foto: Andreas Krebs

Günter Grass. Foto: Andreas Krebs

Foto: Krebs Andreas/Krebs, Andreas (kan)

Jede Leseliste ist nur eine Schneise durchs Dickicht der vielen Geschichten. Die Frage, ob wir hier in unserer kleinen Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 irgendwas und irgendwen vergessen haben, erübrigt sich. Natürlich fehlen Titel und Autoren – jede Menge, hoffentlich: Weil Literatur stets so vielfältig wie das Leben und voller Nebenpfade ist. Unser Reiseziel ist kleiner gesteckt: eine Einladung zum Lesen.

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Stunde Null und Kahlschlag

Die größte literarische Überraschung nach Kriegsende war, dass es keine Überraschung gab. Die Schubladen der Autoren waren weitgehend leer. Natürlich gab es noch die großen Namen wie Thomas und Henrich Mann, Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Carl Zuckmayer. Doch sie waren im Exil. Und so schien tatsächlich eine Stunde Null zu schlagen; die Antwort darauf war der „Kahlschlag“ einer Literatur, die „in Sprache, Substanz und Konzeption von vorne anfängt“. Das sind ziemlich starke Worte, mit denen Wolfgang Weyrauch 1949 die Kurzgeschichtensammlung „Tausend Gramm“ einleitet. Es war ein Bekenntnis, eine Abgrenzung zur Vergangenheit, ein Versprechen für die Zukunft. Die Autoren wollten Vorbild und ihre Texte sollten karg sein und nur das erzählen, was ist. Die „Bibel“ dieser Jahre ist Weyrauchs Anthologie; ihre Präambel wird vier Jahre davor geschrieben, ein Gedicht mit dem programmatischem Titel „Inventur“ von Günter Eich. Doch aller Anfang ist nicht poetisch, sondern politisch. Noch in Kriegsgefangenschaft gründet Hans-Werner Richter die Zeitschrift „Der Ruf“. Aus dem Projekt wird die legendäre Gruppe 47 hervorgehen, eine lose Autorenschar plus Kritiker, die jährlich bis 1967 einander Texte vorliest, diskutiert, verreißt, lobt. Große Autoren werden aus dem „Etablissement der Schmetterlinge“ (Richter) hervorgehen wie Heinrich Böll, Günter Grass, Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger; manche werden ignoriert – wie Wolfgang Koeppen –, andere verrissen wie Paul Celan und Albert Vigoleis Thelen.

„Grass“ und „Gruppe 47“ bei YouTube eingeben

Das große Romanjahr 1959

Es ist „das“ Romanjahr der deutschen Literatur: 1959 sollte sie – so Hans Magnus Enzensberger – das „Klassenziel der Weltliteratur“ endlich erreicht haben: mit der „Blechtrommel“ des späteren Nobelpreisträgers Günter Grass, die uns schelmisch deutsche Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsgeschichte serviert; mit „Billard um halb zehn“ von Nobelpreisträger Heinrich Böll, der uns in der Schilderung eines einzigen Tages über deutsche Schuld aufklärt. Schließlich die „Mutmaßungen über Jakob“ von Uwe Johnson, eine kriminalistische Zustandsbeschreibung des zweigeteilten Deutschlands. Lehrreich und unbedingt lesenswert sind alle drei. Kritisch und widerborstig stellten sie sich dem Wiederaufbaueifer entgegen.

„Autoren erzählen“ und „Heinrich Böll“ auf YouTube eingeben.

Tief im Osten

Viele Schriftsteller Ostdeutschlands fühlten sich lange Zeit ihrem Staat verpflichtet, wollten mit dazu beitragen, dass der Sozialismus im Arbeiter- und Bauernstaat siegen werde. Notwendig schien darum, über Arbeit und Werktätige zu schreiben. Die Kluft zwischen Alltag und Kunst galt es aufzuheben. Den „Bitterfelder Weg“ nannte man das. Ein Auftrag, der zunehmend zu Reibungen führte – und genau dadurch auch zu bedeutsamer Literatur: von Stefan Heym und Sarah Kirsch etwa, von Monika Maron und Günter de Bruyn, vor allem der nobelpreisverdächtigen Christa Wolf – und nicht zu vergessen: Wolf Biermann. Seine Ausbürgerung nach einem legendären Konzert in Köln führte zu vielen Protesten der Künstler und schließlich zur Entfremdung vieler ostdeutscher Autoren mit ihrem Staat. Manche sagen auch: Es war der Anfang vom Ende der DDR.

Verschiedene Konzertausschnitte auf YouTube bei „Wolf Biermann“ und „Köln“.

Die Skandale

Zu Skandalen kommt es, wenn Literatur mit Politik kollidiert. Dazu gehört das späte, 2006 in seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ fast nebenbei erwähnte Geständnis von Günter Grass, als 17-Jähriger Mitglieder der Waffen-SS gewesen zu sein. Aber auch die Paulskirchenrede von Martin Walser 1998, der das ritualisierte Erinnern an den Holocaust als Lippenbekenntnisse abtat und es selbst als „Moralkeule“ empfand. 1993 wird bekannt, dass Christa Wolf drei Jahre lang unter dem Decknamen „IM Margarete“ für die Stasi tätig war, und Peter Handke wird seine unkritische Nähe zu Serbien noch bis zur Literaturpreisverleihung im vergangenen Jahr begleiten. Zu einem Literaturskandal blutiger Natur geriet der Auftritt von Rainald Goetz beim Bachmann-Wettbewerb 1983. Goetz ritzte sich während der Lesung die Stirn mit einer Rasierklinge auf und las so lange weiter, bis das herabtropfende Blut das Manuskript unkenntlich machte. Die Gefahr blieb überschaubar: Der lesende Punk war zu diesem Zeitpunkt promovierter Historiker und Mediziner.

Walsers Rede unter www.podcast.de/epidsode nach den Stichworten „Debatte“, „Bubis“ und „Walser“ suchen.
Goetz-Lesung findet sich auf YouTube unter „Goetz“ und „Bachmannpreis.“

Pop auch in der Literatur

Es sind kunstvolle Reportagen, Kolumnen, gelegentlich Interviews und Protokolle des Alltags, die einer Generation zur Literatur wird – zur Popliteratur. Selbstbegutachtungen und Selbstversuche dominieren, die manchmal zu Exzessen der Selbstinszenierung werden. Wie die Zusammenkunft in der Executive Lounge des Berliner Hotel Adlon. Fast so wie damals die Gruppe 47, nur viel kleiner – mit Joachim Bessing, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg, Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht. Verewigt wird das Treffen des popkulturellen Quintetts in dem Buch „Tristesse Royal“. Nicht viele Werke sind von längerer Haltbarkeit, und auch etliche Autoren verschwinden igrendwann wieder von der Bildfläche. Anders als beispielsweise Benjamin von Stuckrad-Barre, der gefeiert wird für „Soloalbum“ (1998) und „Livealbum“ (1999). Vor allem aber Christian Kracht, dessen Bestseller „Faserland“ von 1995 der Auftakt eines feinnervigen, viel beachteten Gesamtwerks wird.

Lesung von Benjamin v. Stuckrad-Barre auf YouTube unter „Stuckrad-Barre“, „Panikherz“ und „Göttingen“ schauen.


Und heute?

Die Beschreibung von Gegenwart ist immer eine unsichere Angelegenheit; die der gegenwärtigen Literatur erst recht. Vielmehr scheint in bester postmoderner Manier alles möglich. Und dennoch bleibt erkennbar, dass es durchaus auch eine Rückkehr zum konventionellen, mitunter ironischen Erzählen gibt, wie mit den Büchern Daniel Kehlmanns. Auch nahe und ferne Historie scheint wieder gefragt zu sein: Robert Menasse erzählt in „Die Hauptstadt“ von der EU, Robert Seethaler, der in „Ein ganzes Leben“ die bedrückende Lebensgeschichte eines Hilfsknechtes beschreibt, Eugen Ruge erinnert an die Bedrängnisse ostdeutscher Intellektueller in „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Es bleibt abzuwarten, wie neue Literaturformen auch die Sprache prägen werden. Wer den Deutschen Buchpreisträger 2019, Saša Stanišic, bei Lesungen aus dem gekürten, temporeichen Roman „Herkunft“ erlebt, wird dessen Wurzeln als Poetry Slammer schnell erkennen können. Mühelos ließen sich andere Schwerpunkte finden. Denn es ist immer der Leser, der Literaturgeschichte schreibt.

Aktueller Auftritt von Saša
Stanišic auf YouTube unter „Stanisic“ und „Wohnzimmerlesung“.

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