Hans-Peter Schwarz' bestechende Biographie Helmut Kohl — Kanzler und "Parteitier"

Hans-Peter Schwarz, ein großer Zeithistoriker, schreibt über einen großen Politiker, genauer: über Helmut Kohls jeweils acht Kanzlerjahre vor und nach der deutschen Einheit. Unser Rezensent Eckahrd Jesse ist renommierter Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz.

Helmut Kohl – Bilder aus seinem Leben
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Helmut Kohl – Stationen seines Weges

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Foto: AP

30 Jahre nach der Übernahme der Kanzlerschaft durch Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 gibt es nun die erste große wissenschaftliche Biografie über den "Enkel Adenauers", den "Schwarzen Riesen" oder, kurz, "das Schlachtross". Der Biograf Hans-Peter Schwarz, der führende Zeithistoriker Deutschlands, von dem auch ein Mammutwerk über Konrad Adenauer stammt, weiß, worüber er schreibt.

Gut recherchiert, flott formuliert und mit Urteilskraft versehen, gibt die Biografie nicht nur einen Einblick in das politische Leben Kohls, sondern auch in das der Bundesrepublik Deutschland nahezu von Beginn an. Chronologisch angelegt — dem "Aufbruch (1930-1969)" folgen "Der Herausforderer (1969-1982)", "Ein mittelmäßiger Bundeskanzler? (1982-1989)", "Kanzler der Einheit (1989-1990)", "Architekt des neuen Europa (1991-1998)" und "Das Ende des Glückskindes" — fängt die Biografie das politische Werk Kohls angemessen ein.

1989 schlug seine Stunde

Der lange unterschätzte Politiker hatte vier Kanzlerkandidaten der SPD — Hans Jochen Vogel (1983), Johannes Rau (1987), Oskar Lafontaine (1990) und Rudolf Scharping (1994) — besiegt, ehe ihn Gerhard Schröder (1998) bezwang. Damit der biografische Rahmen nicht überdehnt wird, findet sich am Ende eines jeden Kapitels eine "Betrachtung" eher allgemeiner Art: "Die Generation von 1945 und die Parteien" — "Nach dem Wirtschaftswunder" — "Die kurzen achtziger Jahre" — "Der deutsche Kernstaat" — "Helmut Kohl und das dritte europäische Nachkriegssystem" — "Am Ende des Tages".

Hier kommen die Rahmenbedingungen und die politischen Konstellationen eindrucksvoll zur Geltung. So habe Kohl in den "kurzen achtziger Jahren" zwar nicht zur Globalisierung und zur Erosion des Ostblocks beigetragen, wohl aber zur europäischen Integration, die nach der deutschen Einheit, abermals durch Kohl, forciert worden sei.

Schwarz macht plausibel, welche Hindernisse es für Kohl bei seiner Strategie der Wiedervereinigung in den berühmten 329 Tagen vom Fall der Mauer bis zum Tag der Deutschen Einheit zu überwinden galt: in der politischen Klasse Deutschlands wie gegenüber dem östlichen und westlichen Ausland. Zugute kamen ihm dabei das ökonomische Desaster in der DDR und die Sehnsucht nach Wohlstand bei den meisten Ostdeutschen, die eine schnelle deutsche Einheit unter westlichen Vorzeichen anstrebten. Laut Schwarz hat Kohl als wichtigster Architekt das dritte europäische Nachkriegssystem — nach 1918 und nach 1945 — entscheidend geprägt.

Wenig berauschende Rhetorik

Der Biograf, zwei Jahre unter 80, steht Kohl, zwei Jahre über 80, wohlwollend, freilich nicht unkritisch gegenüber. Er hält dessen politische Grundentscheidungen, etwa in der Deutschland- und der Außenpolitik, im Kern für richtig. Schwarz benennt auch Kohls Schwächen: seine eher mageren Kenntnisse der Wirtschaft und die wenig berauschende Rhetorik etwa. Gilt das Lob Kohls Europapolitik und dessen Ausbau der Europäischen Union, so meldet Schwarz Bedenken gegenüber dem "Großprojekt" der Europäischen Währungsunion an.

Hat laut Kohl der Euro die Einigung Europas irreversibel gemacht, so sieht sein Biograf gerade im Euro eine Gefahr für die Integration Europas. "Tragische Größe — wird dies einmal das Urteil sein, das künftig Historiker über den Vorkämpfer des Euro fällen?" Die wegweisende, entschlossene Haltung Kohls, die dieser in der Außenpolitik gezeigt hat, frei von Kraftmeierei, vermisst der Autor in der Innenpolitik. Kohl habe aus Angst vor dem Wähler den überdehnten und kostspieligen Sozialstaat nicht gebremst, ihn vielmehr auf die neuen Bundesländer übertragen.

Diskrete Fragen an die Ehe mit Hannelore

Schwarz widersteht der Versuchung einer voyeuristischen Schlüsselperspektive. Die "Fragen an eine Ehe" sind diskret gestellt. Neben dem "System Kohl" gab es ein "System Hannelore". Sie habe sich Freiraum geschaffen, und der "Politikrummel" sei für sie keineswegs ein bloßer "Opfergang" gewesen. Erst durch die 1993 ausgebrochene schwere Krankheit — eine tückische "Lichtallergie" — trat eine Zäsur ein, und zumal die Jahre 2000/01 waren für sie eine regelrechte Tortur. Was ihren Freitod betrifft, hält sich der Autor zurück: "Das derzeit große öffentliche Interesse an der Thematik ist somit umgekehrt proportional zu den verfügbaren Quellen."

Die Folgen der Spendenaffäre hätten wohl zu Hannelore Kohls Zusammenbruch beigetragen. Das Zerwürfnis des Vaters mit den Söhnen bleibt nicht ausgespart: "Der vorläufige Tiefpunkt der Familientragödie ist am 5. Juli 2011 erreicht. Die Söhne haben zum zehnten Todestag in die Speyrer Dreifaltigkeitskirche zu einer Gedenkfeier eingeladen. Kohl weigert sich zu kommen und muss erleben, wie sie an seiner Haustür Sturm klingeln, um ihn zur Teilnahme zu überreden. Schwarz äußert Missfallen gegenüber der Art und Weise, wie dem seit 2008 hinfällig Gewordenen mitgespielt wird.

Kein Denkmal, aber auch kein Sturz

Die Biografie, keineswegs bloß "ein gut informierter Zwischenbericht", wie es bescheiden heißt, informiert bestens. Der liberal-konservative Wissenschaftler setzt dem liberal-konservativen Politiker kein Denkmal, aber er stürzt ihn auch nicht vom Sockel.

Das Alterswerk von Schwarz, der Schlüsseldokumente einsehen und zahlreiche Zeitzeugen befragen konnte, ist ein Meisterwerk geworden. Die eingängige Sprache reißt den Leser von Seite zu Seite mit. Der Autor zieht alle Register: Ironische Seitenhiebe, salopp-spöttische Formulierungen, sarkastische Sottisen und treffende Aperçus finden sich zuhauf.

Überraschungscoups bleiben aus

Die große Stärke der reich bebilderten Biografie ist vielleicht ihre kleine Schwäche. Schwarz berücksichtigt alle Facetten der Politik des — das Wort kommt oft vor — "Parteitiers" Kohl gleichermaßen gründlich (dass dabei dessen Außenpolitik gegenüber der Innenpolitik überwiegt und besser abschneidet, liegt in der Natur der Sache). So unterbleibt eine thesenartige Zuspitzung oder eine Fixierung auf eine spezifische Thematik.

Enthüllende Überraschungscoups sind Mangelware. Das gilt etwa für die überschätzte Spendenaffäre, deren Proportionen das Buch zurechtrückt, und für das Verhältnis zwischen Kohl und Schäuble — eine Tragödie "von fast altgriechischer Ernsthaftigkeit". Der Untertitel hat damit seine volle Berechtigung.

(RP/pst/csi/das)
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