Highschool-Schüler verwechseln Ost und West

Die Hälfte der Familie meiner Mutter lebte in der DDR. Sie kommt aus Schlesien: Bei der Vertreibung haben sich einige früher niedergelassen als die anderen - meine Großeltern stoppten erst im Rheinland. Im Herbst 1989 war ich 16 Jahre alt und Austauschschülerin an einer kanadischen Highschool in Ontario. Im Spätsommer war schon ein Großcousin über die deutsche Botschaft in Warschau in den Westen geflohen - ich wusste also, dass der Eiserne Vorhang brüchig wurde. Dennoch war ich überrascht, als meine Eltern mitten in der Woche an einem Donnerstag im November bei meiner Gastfamilie anriefen, in Tränen aufgelöst: "Die Grenze ist offen!" Als ich die Bilder aus Berlin sah, die das kanadische und amerikanische Fernsehen zeigten, bekam ich auch Gänsehaut.

Am nächsten Tag in der Schule wurde ich von allen Seiten mit Glückwünschen überschüttet - als hätte ich persönlich die Mauer eingerissen. Viele meiner Mitschüler hatten Deutschland erst jetzt in einem positiven Licht auf dem Schirm, und anders als in den Gesprächen zuvor ging es mal nicht um die Frage, ob ich auch Nazis gekannt hätte. "Bist du glücklich?", fragten sie alle. Ich sagte: "Ja, natürlich!" Aber war ich glücklich? Sicherlich, ich freute mich für meine Verwandten, und mir war schon klar, dass ich Historisches erlebte. Aber uferlose Begeisterung darüber, dass es nun ein Land werden könnte? Für mich war die DDR ein eigenes Klötzchen im Europa-Puzzle gewesen, ein anderes Land, mit Grenze, aber eigenen Sitten - ein bisschen wie Österreich, nur totalitär.

Tage später fragten mich Mitschüler allerdings, wie mich die Russen behandelt hätten und wie es wäre, hinter einer Mauer zu leben. Ich dachte nur, West und Ost ist wie Links und Rechts. Manche können es nicht auseinanderhalten.

(RP)
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