Gastbeitrag Erlasst Griechenland seine Schulden!

Berlin · Griechenland wird seine Schulden nicht zurückzahlen können. Wenn die Deutschen trotzdem darauf beharren, dann vergessen sie ihre eigene Geschichte, schreibt der US-Starökonom Jeffrey Sachs in einem Gastbeitrag.

 US-Starökonom Jeffrey Sachs.

US-Starökonom Jeffrey Sachs.

Foto: Kay Nietfeld

Die überwältigende Wahrheit über die griechische Schuldenkrise ist, dass sie ein massives Ablenkungsmanöver ist. Auf Griechenland entfallen lediglich zwei Prozent der Konjunktur der Euro-Zone und der EU-Bevölkerung. Das bedeutet nicht, dass Griechenland herumgeschubst werden sollte, und noch weniger, dass es aus der Eurozone herausgedrängt werden sollte. Es bedeutet genau das Gegenteil: Die Krise sollte gelöst werden, und zwar im Wesentlichen zu Griechenlands Bedingungen.

Das Problem an einer Währungsunion ist, dass Zweifel den Wirtschaftsraum zerstören können, wenn nicht sogar die gemeinsame Währung. Der Euro ist vom Zweifel infiziert: Bleibt Griechenland? Falls Griechenland geht, ist danach Portugal an der Reihe? Und wenn sie gehen, warum dann nicht Spanien, Italien und andere? Diese Zweifel sind nicht nur giftig, sondern führen zu Kapitalflucht, welche wiederum dieselben Zweifel verstärkt, die sie ausgelöst haben.

Griechenlands prekäre Lage innerhalb der Euro-Zone hat schon vor Langem dazu geführt, dass den griechischen Banken Geldmittel entzogen wurden. Die daraus resultierende Zahlungsunfähigkeit wiederum stürzte Griechenland in eine beinahe verhängnisvolle Wirtschaftskrise. Eine interventionistischere Europäische Zentralbank unter Mario Draghi verhinderte einen Zusammenbruch, aber die Krise ging nie ganz vorüber. Mehrere Rettungsaktionen waren nicht viel mehr als Flicken, die Griechenland jedes Mal über ein paar Monate brachten.

Jeder, der die griechischen Schulden nachrechnet (und manchmal scheint es so, als ob dies in Berlin niemand wirklich tut), weiß, dass Griechenland seine Auslandsschulden, die nun etwa 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, ohne ein Ausmaß an Leid, das die Toleranz demokratischer Gesellschaften einfach übersteigt, nicht zurückzahlen kann. Die linksgerichtete Partei Syriza ist kein auffälliges Phänomen; sie sagt im Vorfeld der Wahlen am Sonntag die finanzielle und politische Wahrheit, egal, wie unbequem diese für Politiker in Berlin und Brüssel sein mag.

Vor 96 Jahren hat uns dies John Maynard Keynes nach dem Versailler Vertrag in Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrages von Versailles gelehrt: "Werden die unzufriedenen Völker Europas bereit sein, eine Generation lang ihr Leben so zu ordnen, dass ein spürbarer Teil ihres täglichen Einkommens für die Begleichung ausländischer Forderungen zur Verfügung steht, deren Ratio [...] nicht zwingend ihrem Gefühl für Gerechtigkeit oder Pflicht entspringt?", fragte er. Und seine Antwort darauf lautet: "Kurz gesagt, ich glaube nicht, dass irgendwelche dieser Tribute länger gezahlt werden als, im besten Falle, ein paar Jahre. Sie widersprechen der menschlichen Natur und dem Zeitgeist." Natürlich hatte er recht, aber erst, nachdem die Katastrophe eingetreten war.

Einige Deutsche beharren darauf, dass Schulden Schulden sind und dass Griechenland sie vollständig zurückzahlen muss. Sie sollten es aus ihrer eigenen Geschichte besser wissen, angefangen bei Keynes' erfolglosem Appell, die Reparationslast Deutschlands zu verringern. Sie sollten sich an die Entlastung erinnern, die Deutschland im Rahmen des Marshallplans und des Londoner Abkommens über die deutschen Auslandsschulden 1953 gewährt wurde. "Verdiente" Deutschland 1953 die Entlastung? Das war nicht die richtige Frage. Die neue Demokratie in Deutschland brauchte die Entlastung, und Deutschland brauchte einen Neubeginn. Sie spielte eine wesentliche Rolle für den deutschen Wirtschaftsaufschwung und den Aufbau der demokratischen Institutionen in der Bundesrepublik.

Gott sei Dank befinden wir uns nicht im großen Drama einer Nachkriegsordnung. Europa ist reich, erfolgreich und demokratisch. Aber vor einem Jahrzehnt haben französische und deutsche Banken Griechenland zu viele Kredite gewährt, und Goldman Sachs hat buchhalterische Taschenspielerei begünstigt, um die rapide Anhäufung der griechischen Staatsschulden zu verbergen. Griechenlands private Gläubiger haben bereits einen hohen Abschlag auf die Schulden hingenommen. Die größere Herausforderung - und eine, die viel einfacher zu bewältigen sein könnte - sind die staatlichen Gläubigern geschuldeten Forderungen: Beträge, die für Griechenland hoch sind, für Europa jedoch sehr gering.

"Verdient" Griechenland den Schuldenerlass? Die griechischen Politiker haben sich falsch verhalten, aber dies taten auch die deutschen, französischen und US-amerikanischen Banken, genauso wie viele griechische Tycoons, die ihr Vermögen im Ausland außer Reichweite der Steuerbehörden versteckt haben. Wer was "verdient", bleibt eine schwierige Frage. Aber wie 1953 in Deutschland ist die eigentliche Frage, ob Griechenland einen Schuldenerlass braucht und ob Deutschland und die anderen Gläubiger diesen gewähren sollten. Hierzu ist die Antwort eindeutig: Die Euro-Zone steuert entweder auf eine konstruktive Vereinbarung über einen Schuldenerlass oder auf einen politischen Knall zu, der weit über Griechenland hinausreicht.

Die Lösung wäre technisch einfach. Griechenlands offene Auslandsschulden sollten zu sehr langfristigen Krediten zu einem festen und niedrigen Euro-Zinssatz umstrukturiert werden, zum Beispiel 0,5 Prozent für die nächsten fünf Jahre mit einem Anstieg auf ein Prozent in den 2020er Jahren und darüber hinaus. Anstatt genaue Zahlen aus der Luft zu greifen, würde es zur Findung eines realistischen Wegs für die Erholung Griechenlands helfen, die Schulden einfach nachzurechnen. Ein Schuldenerlass löst nicht die Konjunkturprobleme Griechenlands, aber er würde die Tür zu einer Lösung öffnen.

(RP)
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