AKW bleiben zwölf Jahre länger am Netz Umweltverbände entsetzt - Brüderle schwärmt

Berlin (RPO). Opposition und Umweltverbände üben beißende Kritik am Atom-Kompromiss der Bundesregierung. Der Bund habe sich als erpressbar erwiesen, Merkel sei vor der Atomlobby eingeknickt. SPD-Chef Sigmar Gabriel sieht einen gesellschaftlichen Großkonflikt auf die Republik zukommen. Wirtschaftsminister Rainer Brüderle hingegen schwärmt vom Beginn einer neuen Zeitrechnung, Kanzlerin Angela Merkel spricht von einer "Revolution."

Was Sie im Streit über Atomstrom wissen sollten
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Foto: ddp

Die Regierung hat sich nach monatelangem Feilschen geeinigt: Alte Meiler dürfen acht Jahre länger laufen, neue sogar bis zu 14 Jahre. Die Einigung sieht auch vor, dass AKW-Betreiber einen Teil ihrer Zusatzgewinne durch die Laufzeitverlängerung für den Ausbau erneuerbarer Energien abführen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bezeichnete den umstrittenen Beschluss der Koalition zum Energiekonzept als "Revolution in der Energieversorgung". "Unsere Energieversorgung wird damit die umweltfreundlichste und effizienteste weltweit", sagte die Kanzlerin am Montag in Berlin. Sie betonte, dass die Atomkraft und die Kohle nur als Brückentechnologie dienen sollten. Dies sei jedoch notwendig, um die Energieversorgung preiswert zu halten. Die Energieversorger müssten "erhebliche Summen in die Sicherheit investieren" und darüber hinaus ein substanziellen Beitrag in einen Fond zur Weiterentwicklung der erneuerbaren Energien einzahlen.

Umweltverbände und Opposition berwerten die Dinge freilich anders. Nach dem Bekanntwerden der Regierungspläne brach bei Umweltverbänden und Opposition ein Sturm der Entrüstung los. Zwar hat die Bundesregierung den wohl auch so erwartet. Doch steht sie vor einem, wenn nicht gar dem Dauerkonflikt der kommenden Monate. Er hat das Potenzial, eine weitere Regierungskrise herbeizuführen. Die Atompolitik spaltet traditionell die deutsche Gesellschaft - und das quer durch die Parteien.

Einen Vorgeschmack auf die zu erwartenden Auseinandersetzungen liefern am Montag Morgen die ersten Reaktionen der Umweltverbände. Der sonst kaum der politischen Krawall-Rhetorik verdächtige Naturschutzbund Deutschland (Nabu) wetterte: "Kanzlerin Merkel knickt vor der Atomlobby ein und zieht den Ausstieg aus dem Atomausstieg durch, ohne sich um wissenschaftliche Erkenntnisse oder die Meinung der Bevölkerung zu scheren." Das von der Bundesregierung beauftragte Energiegutachten liefere jedenfalls keine belastbaren Begründungen für längere Laufzeiten der Atommeiler.

Greenpeace verurteilte die Laufzeitverlängerung als ein "reines Geldgeschenk der Regierung. Zudem fielen nun Tausende Tonnen zusätzlichen Atommülls an. Die Entscheidung sei unverantwortlich. Die Umwelt-Organisation sprach von einem schwarzen Tag für Deutschland.

Die Anti-Atomgruppe "ausgestrahlt" drohte der Bundesregierung: Mit dem Beschluss gehe der gesellschaftliche Streit jetzt erst richtig los. "Die Absprachen der letzten Nacht werden der Regierung um die Ohren fliegen", hieß es in einer Pressemitteilung. Für den 18. September sei zusammen mit anderen Organisationen eine bundesweite Großdemonstration geplant.

Auch die Ökostrom-Branche spart nicht mit scharfer Kritik. "Die Atomlobby hat sich mit ihren dreisten Forderungen auf ganzer Linie durchgesetzt", sagte der Präsident des Bundesverbandes Erneuerbare Energien (BEE), Dietmar Schütz. Dass die Atommeiler länger am Netz bleiben sollen, gefährde zukunftsweisende Milliardeninvestitionen in Erneuerbare Energien. "Damit wird das Energiekonzept der Bundesregierung zur Farce".

SPD-Chef Sigmar Gabriel warf der schwarz-gelben Koalition vor, mit ihrer Beschluss die Gesellschaft zu spalten. Das Vorhaben der Bundesregierung löse "einen neuen gesellschaftlichen Großkonflikt aus", bei dem die Opposition "nicht verlieren kann", sagte Gabriel der "Leipziger Volkszeitung". Die am Sonntagabend beschlossene Laufzeitverlängerung um durchschnittlich zwölf Jahre sei "doch erst der Anfang".

Wie viele andere Oppositionspolitiker hebt Gabriel vor allem auf den Vorwurf der Interessenpolitik ab. Für ihn sei klar, "dass eine deutliche Mehrheit der Bürger nicht will, dass das Kanzleramt zu einer Außenstelle der Atomlobby verkommt", sagte Gabriel. "Die wissen gar nicht, was sie anrichten", fügte er mit Blick auf die Bundesregierung hinzu.

Gabriel bekräftigte, dass "Verfassungsklage erhoben" werde, wenn die Laufzeitverlängerung dem Bundesrat nicht zur Abstimmung vorgelegt werde. In erster Linie gehe es aber um eine wirtschaftspolitische Auseinandersetzung: "Dem Bereich der erneuerbaren Energie droht die Zerstörung und Politik entwickelt sich zum blanken Lobbyismus für die Atomwirtschaft", warnte Gabriel.

Die Linke-Parteichefin Gesine Lötzsch befand: "Die Stromlobby hat sich in entscheidenden Fragen durchgesetzt. Der Bund hat sich unter Merkel als erpressbar erwiesen." Die Atomkonzerne dürften mit abgeschriebenen Meilern billig Strom produzieren, ihn teuer verkaufen und die Gewinne zu großen Teilen einstecken. Der schnelle Atomausstieg komme wieder auf die Tagesordnung, sobald es eine andere Regierungsmehrheit gibt.

Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) verteidigte die Beschlüsse des nächtlichen Atomgipfels und bezeichnete sie als Beginn einer "neuen Zeitrechnung". Der Kompromiss der schwarz-gelben Koalition habe "eine neue Dimension, eine neue Qualität", sagte Brüderle am Montag im Deutschlandfunk. Die Regierung habe sich die Entscheidung nicht einfach gemacht, aufgrund unterschiedlicher Auffassungen sei es ein "schwieriger Weg" gewesen. Atom sei ein "Thema, das nicht frei von Emotionen ist".

Mit den Ergebnissen sei er zufrieden, sagte Brüderle. Sie entsprächen den in den Entscheidungsprozess eingebrachten wissenschaftlichen Gutachten. Der Kompromiss bilde die Grundlage einer Gesamtstrategie für das Energiekonzept der Zukunft. Die Regierung sehe in der Atomenergie eine Brückentechnologie, bis die erneuerbaren Energien ausreichten, um den Energiebedarf zu decken.

Den Vorwurf aus der Opposition, er sei in den Verhandlungen der Koalition als "Atomlobbyist" aufgetreten, wies der FDP-Politiker als "absurd" zurück. Auch die alternativen Energien profitierten "mit riesigen Beiträgen". Der Ökostrom sei "in vielen Bereichen gar nicht tragfähig ohne Staatssubventionen" und eine "massivste Umverteilung", durch die Strom aus anderen Bereichen "kräftig belastet" werde.

Brüderle rechnet mit insgesamt "30 Milliarden, die für den Staat und die Neuausrichtung der Energiepolitik gehoben werden". Bei den Abgaben der Konzerne müsse beachtet werden, dass sie weiterhin ihre Rentabilität erreichten und Gewinne erwirtschafteten.

(apd/RTR/AFP)
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