Verfassungsrechtler Schmierentheater oder würdiger Weg zu Neuwahlen?

Kassel (rpo). War das am Freitag im Parlament der letzte Vorhang eines Schmierentheaters oder doch ein würdiger Weg zu Neuwahlen im Spätsommer? Die Front der Verfassungsrechtler ist gespalten. Viele der Experten halten den von Bundeskanzler Gerhard Schröder gewählten Weg für legitim.

Verbaler Schlagabtausch zur Vertrauensfrage
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Foto: AFP

Die absichtlich gescheiterte Vertrauensfrage Bundeskanzler Gerhard Schröders (SPD) ist politisch wie rechtlich umstritten. Doch nach der Abstimmung vom Freitag und der Begründung des Kanzlers halten viele Verfassungsrechtler Schröders Vorgehen für legitim.

Von der ursprünglich engen Konzeption des Grundgesetzes habe sich das Bundesverfassungsgericht schon 1983 nach der Vertrauensfrage des damaligen Kanzlers Helmut Kohl (CDU) gelöst, sagte etwa Werner Heun, Direktor des Instituts für allgemeines Staatsrecht und Politik an der Universität Göttingen.

"Das Nötige getan"

"Ich glaube, der Bundeskanzler hat das Nötige getan, damit der Bundespräsident das Parlament auflösen kann", zeigte sich auch Wolfram Höfling, Leiter des Instituts für Staatsrecht an der Universität Köln, überzeugt.

Die instabilen Verhältnisse der Weimarer Republik noch vor Augen, hätten die Mütter und Väter des Grundgesetzes "restriktiv gedacht" und die Vertrauensfrage wohl nur für eine wirkliche "Krise des Parlaments" vorgesehen, sagte Heun. So sieht dies mancher Verfassungsrechtler auch heute noch.

Heuns Professoren-Kollegen Josef Isensee aus Bonn und Rupert Scholz aus München etwa machten in der "Bild"-Zeitung vom Freitag ihre Zweifel deutlich: Der Kanzler sei nicht handlungsunfähig, seine Mehrheit im Bundestag stabil; bis zuletzt seien noch mehrere Gesetze verabschiedet worden.

Verfassungswandel eingeläutet

Staatsrechtler, die Schröders Weg dennoch für gangbar halten, stützen sich denn auch weniger auf das Grundgesetz selbst, als auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem es das Scheitern der Vertrauensfrage von Kohl akzeptierte und den Weg für die Neuwahlen von 1983 frei machte. Damit hätten die obersten Richter selbst einen Verfassungswandel eingeläutet und das Grundgesetz neu interpretiert, sagte Heun. Dahinter könnten die Karlsruher Richter nun wohl kaum zurück.

Kern dieses Urteils ist Höfling zufolge eine große "Einschätzungspräjudikative des Bundeskanzlers". Sprich: Der Kanzler hat einen weiten Spielraum, die Basis seiner Macht selbst zu beurteilen. "Plausible Gründe", warum diese auch erst in Zukunft bröckeln könnte, reichen nach Überzeugung des Kölner Wissenschaftlers aus. Schröder habe am Freitag in seiner Begründung für die Vertrauensfrage im Bundestag "hinreichend deutlich gemacht", dass er keine ausreichende Basis für eine Fortführung der Agenda 2010 mehr sehe, sagte Höfling.

"Eher der Auftakt zum Wahlkampf"

Der Kanzler gehe zulässigerweise von einer nur unsicheren Mehrheit aus, stimmte der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Gottfried Mahrenholz, im RBB zu. Und auch die frühere Verfassungsgerichts-Präsidentin Jutta Limbach sagte im Fernsehsender N24, Schröder habe sie mit seiner Begründung überzeugt.

In seiner Erklärung vor dem Bundestag verwies Schröder auch auf die Blockade durch die Unionsmehrheit im Bundesrat. Dies sei wohl eher "der Auftakt zum Wahlkampf", vermutete der Staatsrechtler Höfling. Auch nach Überzeugung Heuns liegt dieses Argument "eher neben der Sache".

Allerdings habe sich bei der Entstehung des Grundgesetzes wohl niemand vorstellen können, dass aus dem Bundesrat eine nicht von Länder- sondern von Parteiinteressen gelenkte zweite Kammer mit hoher Gesetzgebungskompetenz werden könnte. Von daher sei es doch nicht ganz abwegig, diesem faktischen Verfassungswandel mit einer Neuauslegung des Grundgesetzes bei der Vertrauensfrage zu entsprechen.

In seinem Urteil von 1983 stellte das Bundesverfassungsgericht auch auf den Konsens der Verfassungsorgane ab. Das heißt, es ist auch von Bedeutung, ob sich Bundeskanzler, Bundespräsident, Parlament und Parteien im Wunsch nach Neuwahlen einig sind.

Und dieser Konsens bestehe, so Heun - vorbehaltlich dessen, dass auch der Bundespräsident zustimmt. Die großen Parteien seien ebenso für Neuwahlen wie, glaube man den Umfragen, die Bürger. "Ich glaube, dass sich auch das Bundesverfassungsgericht diesem Konsens nicht entziehen kann."

(afp)
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