Ukraine-Krieg Entsteht gerade eine neue Friedensbewegung, Herr Varwick?

Interview · Der Politologe Johannes Varwick gehörte zu den Erstunterzeichnern des Manifests, das am Wochenende zu einer Demo in Berlin mobilisiert hat. Doch er zog seine Unterschrift zurück. Was er heute über den Aufruf denkt. Und warum er weiter Verhandlungen mit Russland fordert.

 Der Politologe Johannes Varwick

Der Politologe Johannes Varwick

Foto: Henning Schacht

Geschätzt 13.000 Menschen sind am Wochenende dem Aufruf der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und der Publizistin Alice Schwarzer gefolgt und haben in Berlin für ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine und die Aufnahme von Verhandlungen demonstriert. Formiert sich da eine neue Friedensbewegung?

Varwick Das ist offenkundig so, allerdings muss man abwarten, in welche Richtung sich das entwickelt. Ich war in Berlin und habe bei der Demo ein breites Spektrum von Personen gesehen. Das reichte von besorgten Bürgern, über Anhänger der Links-Partei, Vertreter der 1980er-Jahre-Friedensbewegung und vereinzelt auch Rechte und Rechtsextremisten. Was für eine Bewegung da herauskommt, ist noch schwer zu sagen. Ich fand es trotzdem wichtig, dass da eine Stimme laut gemacht wurde, die sich für Verhandlungen und gegen die Eindimensionalität von Waffenlieferungen ausspricht.

Sie selbst haben das Manifest von Wagenknecht/Schwarzer zunächst unterstützt, dann Ihre Unterschrift zurückgezogen. Warum?

Varwick Ich teile die Ziele des Manifestes weitgehend. Solche Texte sind immer Kompromisspapiere. Als alleiniger Autor hätte ich manches anders formuliert, aber die Stoßrichtung habe ich geteilt – und teile sie immer noch. Allerdings hatte ich im Nachgang zu der Veröffentlichung den Eindruck, dass sich hinter dem Manifest Kräfte versammeln, mit denen ich nichts zu tun haben möchte. Ich möchte nicht in einer Reihe mit dem AfD-Vorsitzenden genannt werden. Das ist natürlich so, bei öffentlichen Erklärungen. Man kann nicht kontrollieren, wer das noch unterstützt. Aber man hätte sich deutlicher zum rechten Spektrum abgrenzen können. Die Aussage von Frau Wagenknecht, dass alle willkommen seien, die reinen Herzens für Frieden sind, war mir zu wenig. Da wollte ich mich nicht mit gemein machen.

Sie haben Ihre Eindrücke von der Demo geschildert. Bleiben Sie bei Ihrer Distanzierung?

Varwick In den Reden, die ich bei der Demo gehört habe, fand ich die Abgrenzung gegen rechts eindeutig. Da wurde deutlich gesagt, dass man mit Rechtsextremen nichts zu tun haben möchte, das war von der Tonart in Ordnung.

Sie haben gesagt, dass Sie das Manifest als alleiniger Autor anders geschrieben hätten. Was hätte in einem Manifest aus Ihrer Feder gestanden?

Varwick Ich hätte mir am Anfang noch eine deutlichere Verurteilung Russlands vorstellen können. Das kommt im Text des Manifests vor und die Vorwürfe, dass das russlandnah sei, sind Unsinn. Das kann man dem Text nicht entnehmen. Allerdings hätte man sich diese Debatte sparen können, indem man am Anfang gesagt hätte, dass dieser Angriffskrieg von Russland ausging und deutlich zu verurteilen ist. Der Geist des Textes war so, aber um noch deutlicher zu machen, wo man steht, hätte man das noch expliziter formulieren können.

Für Frieden und Verhandlungen zu demonstrieren, sind positive Ziele, die sicher viele Menschen prinzipiell unterstützen. Aber im Fall der Ukraine bedeutet ein Ende der Waffenlieferungen zu fordern, dem Land die Kapitulation zu empfehlen. Können Sie nachvollziehen, dass auch prinzipiell pazifistisch eingestellte Menschen da nicht mitgehen wollen?

Varwick Das kann ich nachempfinden, glaube aber nicht, dass Ihre These stimmt. Die Diskussion ist in Deutschland leider sehr polarisiert. Es wird sofort mit Unterstellungen gearbeitet auf allen Seiten. Das ist nicht hilfreich. Ich finde, dass die Ukraine zu möglichst guten Bedingungen aus diesem Krieg herausgehen soll. Sie soll also natürlich nicht kapitulieren. Aber wir müssen doch eine politische Strategie formulieren, die auch realistisch umsetzbar ist. Und da ist es meiner Meinung nach ein Fehler, der Ukraine auf dem Weg zu folgen, die Rückeroberung des gesamten ukrainischen Territoriums als Kriegsziel auszugeben. Das ist zu vertretbaren Kosten nicht umsetzbar. Und ich bin dagegen, sich für unrealistische Ziele zu verkämpfen, statt eine politische Strategie zu entwickeln. Wir sollten also nicht länger allein auf Waffenlieferungen setzen ohne erklärtes politisches Ziel.

Viele Experten sagen aber, dass die Ukraine gerade noch nicht in der Position ist, die stark genug für Verhandlungen wäre. Sie halten den Zeitpunkt für zu früh.

Varwick Das hat man vielleicht 1916 in Verdun auch gesagt. Nein, wir müssen jetzt verhandeln. Der Krieg wird sonst am Ende ein Ergebnis zur Folge haben, das wir auch schon jetzt haben könnten, aber es werden viel mehr Menschen gestorben sein. Die militärische Logik, nach der die Ukraine weiter Territorium freikämpfen soll, um Russland unter Druck zu setzen, finde ich unverantwortlich. Und ich komme nicht aus einem pazifistischen Lager. Darum tue ich mich auch etwas schwer mit dem Milieu, das da am Wochenende demonstriert hat. Ich argumentiere ausschließlich aus einer strategischen Perspektive. Aber auch aus strategischer Sicht ergibt es keinen Sinn, sich für ein aussichtsloses Ziel zu verkämpfen. Die Ukraine muss das selber wissen. Es ist ihre souveräne Entscheidung, wann sie mit Verhandlungen beginnen will. Aber wir müssen nicht alles unterstützen, was die Ukraine sinnvoll findet.

Aber wie sollen Verhandlungen stattfinden mit einem Aggressor, der keinerlei Interesse an Gesprächen zeigt. Moskau zeigt ja deutlich, dass es den Krieg fortsetzen will.

Varwick Ich bin nicht naiv. Das wären natürlich keine einfachen Verhandlungen mit Russland, aber man muss hinter den Kulissen an einem Interessenausgleich arbeiten. Darum wird es früher oder später ohnehin gehen. Ich bin sicher, dass dann um zwei Elemente gerungen wird: die Abkehr von dem Vorhaben, die Ukraine in ein westliches Militärbündnis einzubinden und damit aus russischer Perspektive ein gegnerisches Bündnis direkt an der russischen Grenze zu etablieren. Das muss vom Tisch. Außerdem wird man die territoriale Veränderung der Ukraine aus dem Konflikt herauslösen müssen. Man wird den Status quo wahrscheinlich einfrieren, ohne ihn völkerrechtlich anzuerkennen. Denn wenn man darauf besteht, erst dann zu verhandeln, wenn der letzte russische Soldat von ukrainischem Boden abgezogen ist, dann ist das eine völkerrechtlich korrekte, eine moralisch korrekte, aber eine politisch unrealistische Position. Und dann sind wir wieder bei meinem Argument, dass es sich nicht lohnt, für politisch unrealistische Ziele zu kämpfen.

Sie haben die russische Perspektive erwähnt, aber was ist mit dem Sicherheitsbedürfnis der Ukraine? Keine Einbindung in die Nato, keine Rückeroberung der östlichen Gebiete und der Krim, das würde bedeuten, dass die Ukraine mit dem Aggressor im Nacken weiterleben müsste.

Varwick Ja, aber wir sehen doch, dass die Ukraine im Moment zerrieben wird. Sie hat höchste Opferzahlen, die Infrastruktur ist zerstört, die Wirtschaft liegt am Boden. Wir sollten uns also politisch überlegen, wie die Ukraine wegkommen kann aus diesem Krieg. Die Einbindung in ein westliches Bündnis ist die rote Linie für die Russen, die der Westen einfach ignoriert hat und die er besser hätte sehen müssen. Das heißt natürlich nicht, dass wir der Ukraine nicht Beistand leisten, wenn dieser Konflikt eingefroren werden würde. Natürlich müsste es dann westliche Sicherheitsgarantien geben, an denen sich auch Deutschland beteiligen müsste. Aber wie genau das aussehen könnte, müsste eben verhandelt werden – verträglich für beide Seiten.

Bei dem, was Sie skizzieren, hätte Russland mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg viel erreicht.

Varwick Nein, das ist ein völlig falsches Argument von denjenigen, die sagen: Russland darf doch nicht belohnt werden. Russland schadet sich mit diesem Krieg selbst massiv. Es ist also falsch zu behaupten, wenn man jetzt nüchtern politische Kompromisse ausloten würde, hätte Russland den Krieg gewonnen. Russland hat den Krieg jetzt schon verloren. Es hat seine weitgehenden Kriegsziele nicht erreicht und sich ökonomisch, politische, moralisch schwer geschadet. Unabhängig davon, wie der Krieg ausgeht: Russland wird ihn nicht gewinnen.

Warum ist die Debatte in Deutschland so polarisiert?

Varwick Die Debattenkultur in Deutschland ist insgesamt auf keinem guten Niveau. In der Kriegsfrage kommt hinzu, dass Opfer und Täter eindeutig auszumachen sind. Wenn man also versucht, differenziert zu diskutieren, wird schnell unterstellt, man sei auf Seite der Täter. Das ist eine Verlotterung der Diskussionskultur, die wir uns nicht gefallen lassen sollten. Man muss versuchen, sachlich dagegen zu halten und nicht gleich jedes Argument zu einer moralischen Prinzipienfrage zu machen. Sonst kommt man nicht zu Lösungen.

Bei der Demo in Berlin konnte man Stimmen von Teilnehmern hören, die sagten, politisch sei das ja alles sehr kompliziert, aber sie seien in jedem Fall für Frieden. Ist es angesichts der Lage in der Ukraine legitim, mit einer naiven Haltung für Frieden einzutreten?

Varwick Mir ist so eine Grundhaltung erst einmal sympathisch. Ich verstehe auch, wenn Leute sagen, dass man einen Aggressor nicht belohnen darf und dem Opfer beistehen muss. Aber egal, wo man steht, sollte man sich die Mühe machen, die Argumente der Gegenseite zu prüfen und nicht alles in ein Schwarz-Weiß-Schema zu zwängen. Dazu sind nicht alle fähig. Das ist auch in Ordnung in einer Demokratie, trotzdem dürfen alle Bürger mitreden. Aber die politischen Eliten und die Medien haben die Verantwortung, einen differenzierten Diskurs zuzulassen.

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