Berlin/Straßburg Bundespräsident Gauck sucht sein Thema

Berlin/Straßburg · Das Staatsoberhaupt hat bislang keine Botschaft für seine Amtszeit gefunden. Die Menschenrechte könnten es werden.

Auch der erste Bürger im Staate ist bisweilen unsicher. "Kann man das so sagen?", fragt Bundespräsident Joachim Gauck den neben ihm stehenden Chef des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Dean Spielmann. Gauck hat soeben einen Rundgang durch die Poststelle des Gerichts beendet — 1600 Beschwerden über vermeintliche Menschenrechtsverletzungen kommen hier pro Tag an. Das Straßburger Gericht bezeichnet Gauck vor Kameras als "letzte Instanz" für entrechtete Bürger. Offenbar ist ihm das selbst ein bisschen zu dick aufgetragen. Doch Spielmann nickt ihm zu. Einem Präsidenten widerspricht man nicht.

Mehr als ein Jahr nach seiner Wahl ist Joachim Gauck noch auf der Suche nach der Trittfestigkeit, nach der Souveränität, die schon von Amts wegen vom Staatsoberhaupt verlangt wird. Die Botschaft seiner Präsidentschaft, den wegweisenden Debattenbeitrag, sucht man vergebens. Gauck ist beliebt. Seine Fähigkeit zur Empathie, die rhetorische Stärke und seine authentisch wirkende Neugier, ja die Herzlichkeit des 72-jährigen Ex-Pfarrers gegenüber den Menschen verdeckten diese inhaltliche Lücke bislang.

Nun versucht der Ex-DDR-Bürgerrechtler, sein Kernthema, die Freiheit, mit einer politischen Botschaft zu verknüpfen: dem Einsatz für Menschenrechte. Kurz vor dem Besuch beim Straßburger Gericht spricht Gauck vor dem Europarat. Er lobt die Menschenrechte als unteilbare Errungenschaft der Zivilisation und ermahnt die osteuropäischen Länder, die Menschenrechte nicht nur auf dem Papier zu akzeptieren. "Nationale Organe dürfen diesen Wertekanon nicht aushöhlen." Gauck weiß, wovon er spricht: Als Pastor in Rostock zitierte er die Menschenrechtskonvention des Rats, um das Regime vorzuführen (die DDR hatte sich formal zu der Konvention bekannt). Dem 47 Mitglieder starken Gremium, zu dem Länder wie die Ukraine, Russland und die Türkei gehören, wünscht Gauck mehr Aufmerksamkeit. Dafür erntet er viel Applaus vor Ort. Die heimische Öffentlichkeit nimmt indes kaum Notiz von dem Straßburg-Besuch, immerhin dem ersten eines Bundespräsidenten seit 1983.

Das passiert dem Präsidenten zuletzt häufiger. Man nimmt Gauck den Part als Rechtsstaatslehrer ab. Wer sonst könnte für die Vorzüge der Demokratie werben, als jemand, dem sie lange Zeit seines Lebens verwehrt waren? Doch es bleibt wenig hängen. In der alles dominierenden Euro-Krise meldet sich Gauck zu spät zu Wort. In seiner Europa-Rede im Februar fordert er mehr "Bannerträger und weniger Bedenkenträger". Das kam an, war aber nicht besonders originell. Dass Europa Vertrauen in das Gemeinsame braucht, ist angesichts der Ränkespiele zwischen den Mitgliedstaaten mit Händen zu greifen. Was schiefläuft, vermag aber auch Gauck nicht zu erklären. Vielleicht ist es kein Zufall, dass das Präsidialamt gerade zwei neue Redenschreiber für die Europaabteilung sucht.

Auch beim Umgang mit dem Neonazi-Terror ist Gauck bemüht, lädt die Opfer ins Schloss Bellevue ein, findet aber keine aufrüttelnden Worte. Die Themen Integration und Demografie, ein Mega-Thema für die Politik der nächsten Jahrzehnte, streift Gauck nur. Zu sehr erinnern sie an den Vorgänger Wulff.

Dafür gibt Gauck den Kapitalismuskritiker, wettert gegen unverantwortliche Manager und spricht in einer Obdachlosen-Zeitung über Barmherzigkeit. Manch Konservativer wähnt den überzeugten Marktwirtschaftler Gauck schon auf dem Weg zum Linken.

Dass er es nicht allen recht machen kann, hat Gauck längst akzeptiert. Er weiß, dass die Glaubwürdigkeit, die er aus seiner Biografie zieht, sein größtes Plus ist. Auch deshalb will er sich weiter für das Thema Menschenrechte einsetzen. Demnächst ist ein Besuch beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag geplant. Und die noch vom Vorgänger geplante Südamerika-Reise ließ Gauck um einen Abstecher nach Kolumbien erweitern: ein Land, das nach 40 Jahren Gewaltherrschaft allmählich Freiheits- und Menschenrechte erlernt. Das ist ganz nach dem Geschmack von Joachim Gauck. Auch wenn das zu Hause vielleicht wieder kaum einem besonders auffallen wird.

(brö)
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