Putins Racheangriffe Ukrainer geben sich betont unbeeindruckt von neuer Angriffswelle

Kiew · Wladimir Putins neue massive Angriffswelle in der Ukraine hält an. Aber wenn er glaubt, damit den Widerstand der Einwohner aufzuweichen, hat er sich wohl erneut verrechnet.

Als russische Bombenangriffe vor gut einer Woche Städte in verschiedenen Teilen der Ukraine erschütterten, rissen Explosionen in Kiew einen großen Krater in einen Kinderspielplatz und eine zentrale Straßenkreuzung auf. Am nächsten Tag floss der Verkehr über die neu asphaltierte Fahrbahn, und das Leben in der Hauptstadt war fast wieder normal. Die Antwort der Einwohner auf Russlands neue Angriffswelle war es, wieder zur Arbeit zu gehen, einen Spaziergang in der Herbstsonne zu machen und vor Beginn der kalten Jahreszeit das letzte Gemüse aus den Gärten zu ernten.

Eine ähnliche Szene spielte sich in Dnipro in der mittleren Ukraine ab. Eine von einer Explosion beschädigte Straße war am nächsten Morgen wieder befahrbar. „Wir haben die ganze Nacht über gearbeitet, unsere Zähne zusammengebissen“, schrieb der Bürgermeister der Stadt, Borys Filatow, am 11. Oktober, einen Tag nach dem Angriff, auf Facebook. „Wir werden alles wiederherstellen und wiederaufbauen. Aber unser Hass wird über Jahrhunderte hinweg leben.“

Und so sieht und hört man es auch anderswo in den Orten, die Russland in seiner jüngsten massiven Angriffswelle ins Visier genommen hat. Der ukrainische Widerstand scheint ungebrochen zu sein, trotz der neuen Phase, die der russische Präsident Wladimir Putin in dem nunmehr fast schon acht Monate dauernden Krieg eingeleitet hat - offenbar als Rache für eine Explosion, die am 8. Oktober die von Russland gebaute Brücke zur annektierten Halbinsel Krim beschädigt hatte.

Ukraine Krieg: Explosionen in Kiew und mehreren Großstädten
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Schwere Explosionen erschüttern mehrere ukrainische Großtädte

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Foto: dpa/Adam Schreck

Russische Raketen und vom Iran gebaute Drohnen trafen zwei Tage später mindestens zehn Regionen in der Ukraine, wichtige Infrastruktur wie Kraft- und Wasserwerke, aber auch Wohngebiete. Mehr als 20 Menschen kamen bislang in dieser umfassendsten Angriffswelle seit den frühen Tagen der Invasion ums Leben, mehr als 100 erlitten Verletzungen.

Am Montag wurde Kiew erneut von Explosionen erschüttert. Diesmal schlugen mit Sprengstoff beladene Kamikaze-Drohnen ein. Menschen brachten sich rennend in Sicherheit. Lebende und Tote wurden aus Trümmern geborgen. Aber wieder kehrte das städtische Leben rasch zurück, auch wenn nur Stunden später erneut Luftschutzsirenen heulten. „Der Feind kann unsere Städte angreifen, aber er wird nicht in der Lage sein, uns zu brechen“, postete Präsident Wolodymyr Selenskyj in sozialen Medien.

Im Gegenteil. Moskau zielt mit seiner jüngsten Angriffstaktik offenbar darauf ab, das Leben für Ukrainer auch weit von den Frontlinien entfernt schwieriger, den kommenden Winter unerträglich zu machen. Aber das lässt sie anscheinend nur noch stärker in ihrer Entschlossenheit zusammenrücken, Putin und seine Truppen zu schlagen.

Die ukrainische Regierung hat zu einer landesweiten Verringerung des Energieverbrauches aufgerufen und für einige Regionen Stromabschaltungen im Rollverfahren verfügt, während beschädigte Elektrizitätswerke und Stromleitungen repariert werden. Der Appell fiel anscheinend auf fruchtbaren Boden. So hatten Einwohner im Gebiet von Kiew am 15. Oktober ihren Verbrauch durchschnittlich um sieben Prozent reduziert, wodurch Blackouts vermieden werden konnten, wie die staatliche Energiegesellschaft Ukrenerho berichtete.

Danylo, ein Student in der Hauptstadt, sagt, dass er seinen Stromverbrauch daheim eingeschränkt habe, „weil wir begreifen, dass das ein Weg ist, uns vor völligem Verlust zu schützen“. Es trage dazu bei, „auf einen allgemeinen Sieg hinzuarbeiten“, fügte der 20-Jährige hinzu, der aus Sicherheitsgründen seinen Nachnamen nicht nennen wollte.

Eine ähnliche Entschlossenheit ist auch inmitten der Zerstörung, der Ruinen an den Frontlinien im Osten und Süden der Ukraine zu spüren. Nach dem Rückzug aus der östlichen Region von Charkiw hat Russland seine Angriffe auf Saporischschja, Mykolajiw und Orte in der Umgebung verstärkt, während eine ukrainische Gegenoffensive an der Südflanke stetig an Boden gewinnt. Das Stadtviertel Saltiwka am nordöstlichen Rand von Charkiw, der zweitgrößten Stadt des Landes, zählt zu den Gegenden, die besonders stark gelitten haben.

Einst die Heimat von fast einem Drittel der 1,4 Millionen Einwohner Charkiws wurde Saltiwka monatelang erbarmungslos bombardiert, Dutzende Menschen kamen ums Leben. Am Ende waren weite Teile des Viertels praktisch unbewohnbar, Zehntausende Einwohner zur Flucht gezwungen. Jene, die blieben, wandern jetzt wie Geister zwischen den verkohlten Stahl- und Betonskeletten von dem, was einst eines der größten Wohngebiete der Ukraine war. Aber trotz des Verlustes sagen viele, dass sie keinen Kompromiss mit Russland wollten, um es zur Einstellung der Kämpfe zu bewegen.

„Ohne Sieg gibt es keine Ukraine“, so Hryhorij Iwanowitsch, dessen halbes Wohnzimmer durch eine russische Rakete zerstört wurde. „Es gibt keinen Kompromiss, nur einen ukrainischen Sieg.“ Für diejenigen, die Tote in ihrer Familie oder ihrem Freundeskreis zu beklagen haben, ist es schwerer, eine solche Entschlossenheit zu bewahren. Und dennoch tun sie es. Ljubow Mamedowa hat vor Kurzem ihren Sohn verloren, durch eine russische Landmine. Die Ukraine müsse weiter die Freiheit schützen, das habe ihrem Sohn am Herzen gelegen, sagt sie, wiederholt in Tränen ausbrechend. „Wir werden kämpfen. Er hat immer gesagt: „Der Sieg ist unser".“

Es gibt aber auch manche, die meinen, dass eine politische Lösung gesucht werden müsse, um das Blutvergießen zu beenden. Dazu zählt Oleh Postawnytschyj, der in Saltiwka geblieben ist, obwohl seine Wohnung erheblich beschädigt wurde. Aber auch er will keinen Deal, der das Abtreten ukrainischen Landes beinhalten würde. „Wir müssen irgendeinen Kompromiss finden, denn weder die Russen noch wir brauchen diesen Krieg“, sagt der 39-Jährige. „Normale Menschen sollten nicht leiden. (...) Aber wir können ihnen keines unserer Territorien geben. Das sind unsere Territorien.“

(albu/dpa)
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