Österreich Kanzler Kurz unter Bestechungsverdacht – Polizei durchsucht Kanzleramt

Wien · Ein beispielloser Vorgang: Ermittler durchsuchen die Machtzentralen der regierenden Konservativen in Wien. Der Verdacht geht in Richtung Bestechung. Die Opposition fordert Kurz zum Rücktritt auf.

 Der österreichische Korruptionsstaatsanwalt ermittelt gegen Österreichs Kanzler Sebastian Kurz.

Der österreichische Korruptionsstaatsanwalt ermittelt gegen Österreichs Kanzler Sebastian Kurz.

Foto: AFP/JOE KLAMAR

Österreichs Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) gerät immer stärker unter Druck. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) ermittelt nun auch in einem zweiten Fall gegen den konservativen Regierungschef. Diesmal geht es um den Verdacht der Untreue, Bestechlichkeit und Bestechung, wie die Behörde am Mittwoch mitteilte. Kurz erklärte, er sei davon überzeugt, dass sich auch diese Vorwürfe schon bald als falsch herausstellen würden. Den Ermittlungen sehe er gelassen entgegen, "selbstverständlich" bleibe er Kanzler, sagte der ÖVP-Chef am Abend dem ORF. Mit Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) habe er über alles gesprochen. Er könne sich nicht vorstellen, dass die Regierung nicht halte.

Gegen den 35-Jährigen wird bereits wegen mutmaßlicher Falschaussage in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss ermittelt. Während sich der Koalitionspartner Grüne vorerst zurückhielt, fordert die Opposition Kurz' Rücktritt.

Laut Staatsanwaltschaft wird neben dem Kanzler gegen neun weitere Beschuldigte sowie drei Verbände ermittelt, teils in unterschiedlichen Beteiligungsformen. Im Zuge dessen gab es der Behörde zufolge am Mittwoch Hausdurchsuchungen an mehreren Standorten, darunter auch in einzelnen Büros zweier Ministerien. Die ÖVP bestätigte Razzien im Kanzleramt, der Parteizentrale sowie im Finanzministerium. Betroffen sind der Partei zufolge enge Mitarbeiter und Berater des Kanzlers.

Die Behörde geht eigenen Angaben zufolge dem Verdacht nach, dass zwischen 2016 und zumindest 2018 Gelder des Finanzministeriums zur Finanzierung von parteipolitisch motivierten und mitunter manipulierten Umfragen eines Meinungsforschungsinstituts verwendet wurden. Kurz war bis 2017 Außenminister, bevor er im Mai 2017 das Ruder bei der ÖVP übernahm. Bei den Neuwahlen im Oktober 2017 ging die Volkspartei als stärkste Kraft hervor und Kurz wurde Bundeskanzler.

Die Umfrageergebnisse sind der Staatsanwaltschaft zufolge - ohne als Anzeige deklariert worden zu sein - im redaktionellen Teil einer österreichischen Tageszeitung und anderen zu dieser Gruppe gehörenden Medien veröffentlicht worden. Laut der Behörde besteht der Verdacht, dass im Gegenzug von den Amtsträgern im Rahmen von Medien- und Inseratekooperationen Zahlungen an das Medienunternehmen geleistet worden seien. Die im Zuge der Hausdurchsuchungen sichergestellten Beweismittel würden nun gesichtet und ausgewertet, so die WKStA.

Am Mittwoch waren Fahnder angerückt, um im Kanzleramt, in der ÖVP-Zentrale, im Finanzministerium und in einem Medienhaus Materialien zu sichern. Sie suchten Mails aus der Zeit seit Anfang 2016 sowie Datenträger, Server, Handys und Laptops. Betroffen war der engste Kreis um Kurz - etwa ein Pressesprecher, sein Medienberater und sein Chefstratege. Gerüchte um eine drohende Razzia hatten seit Tagen die Runde gemacht.

Die 104-seitige Begründung der Ermittler für die Durchsuchungen hat es in sich. Der Wortlaut wurde von dem investigativen Online-Portal Zackzack veröffentlicht, hinter dem der Ex-Grünen-Chef und Ex-Nationalratsabgeordnete Peter Pilz steckt.

Aus dem Dokument geht der Verdacht hervor, dass Kurz an einem Deal mit einem österreichischen Medienhaus beteiligt gewesen sein soll. Er soll laut Anklagebehörde ab April 2016 als damaliger Außenminister daran mitgewirkt haben, mit durch Steuergelder finanzierten Inseraten Einfluss auf redaktionelle Inhalte zu nehmen. Eine zentrale Rolle dabei sollen Umfragen gespielt haben, deren Zeitpunkt, Fragestellungen und Auswertung vom Team um Kurz beeinflusst worden seien.

Das wies der österreichische Kanzler zurück. "Auch diesmal sind es wieder konstruierte Vorwürfe mit derselben Systematik", sagte Kurz. "Es werden immer SMS aus dem Kontext gerissen, um daraus einen strafrechtlichen Vorwurf zu konstruieren." Es gebe überhaupt kein Indiz dafür, dass er gesteuert habe, welche Inserate oder Umfragen im Finanzministerium geschaltet worden seien. Nicht nachvollziehen könne er, warum "immer ich schuld sein soll", wenn irgendwo Unrecht geschehe. Dass er Scheinrechnungen für Umfragen gestellt oder erhalten oder sonstwie darin involviert sein könnte, könne "zu 1000 Prozent ausschließen". Die Vorwürfe würden sich vor allem an Mitarbeiter des Finanzministeriums richten.

Die Mittel im Umfang von mehr als einer Million Euro sollen laut Staatsanwaltschaft dabei aus dem Etat des Finanzministeriums geflossen sein, als Kurz die Übernahme der ÖVP anstrebte. Er gewann 2017 den Machtkampf gegen den hoffnungslos unterlegenen ÖVP-Parteichef Reinhold Mitterlehner und wurde im Dezember 2017 Kanzler einer Koalition aus ÖVP und rechter FPÖ. Auch danach soll die Kooperation zwischen dem Kanzleramt und dem Medienhaus weitergegangen sein. „So weit wie wir bin ich echt noch nie gegangen. Geniales Investment. (...) Wer zahlt schafft an. Ich liebe das“, heißt es laut Ermittlungsunterlagen in einer Chat-Nachricht eines Kurz-Vertrauten aus dem Finanzministerium, nachdem wieder einmal die gewünschte Berichterstattung platziert wurde. Am gleichen Tag soll Kurz sich beim Absender bedankt haben: „Danke für Österreich heute!“

Bundespräsident Alexander Van der Bellen sagte bei einer Festveranstaltung mit Blick auf die Razzien: "Wir sind heute Zeugen eines doch sehr ungewöhnlichen und schwerwiegenden Vorgangs geworden." Man müsse sich auf die Fundamente des Rechtstaats besinnen. Es sei Aufgabe der Staatsanwaltschaften, Verdachtsmomenten unabhängig vom Ansehen der Personen nachzugehen und sowohl Belastendes als auch Entlastendes zu suchen. Momentan wisse man nur, dass es Ermittlungen gebe.

Die ÖVP kritisierte die Razzien. "Das ist aus unsere Sicht reine Show und Inszenierung", sagte ÖVP-Franktionschef August Wöginger. Er kündigte Widerstand an. „Wir werden hier mit aller Kraft dagegen halten, sowohl auf der politischen als auch auf der juristischen Ebene.“ "Die stellvertretende ÖVP-Generalsekretärin Gabriela Schwarz sprach in einer Mitteilung von falschen Anschuldigungen. „Das passiert immer mit demselben Ziel und System: Die Volkspartei und Sebastian Kurz massiv zu beschädigen“, sagte sie. Es gehe den Ermittlern offenbar um einen „Showeffekt“.

Zurückhaltend zeigte sich der Koalitionspartner, die Grünen. "Wir haben vollstes Vertrauen in die Justiz. Die macht ihre Arbeit ohne Ansehen der Personen", sagte Grünen-Klubfrau Sigrid Maurer. "Wir werden sehen, wie es weitergeht."

Mehreren Medien zufolge geht es um Inserate der Tageszeitung "Österreich". Die Zeitung wies die Vorwürfe zurück: "Zu keinem Zeitpunkt gab es zwischen der Mediengruppe Österreich und dem Finanzministerium eine Vereinbarung über eine Bezahlung von Umfragen durch Inserate." Alle Inseratenzahlungen des Ministeriums seien durch das Transparenzgesetz offengelegt.

Die Opposition dringt auf eine rasche Sondersitzung des Nationalrates. Kurz müsse sich auch vor dem Parlament und der Öffentlichkeit verantworten, wird der stellvertretende SPÖ-Klubchef Jörg Leichtfried in einer Mitteilung von SPÖ, FPÖ und Neos zitiert. "Wenn die Regierung und offensichtlich auch der Bundespräsident handlungsunfähig sind, muss das Parlament die Notbremse ziehen", sagte FPÖ-Chef Herbert Kickl. "Der Rücktritt des Bundeskanzlers ist angesichts der aktuellen Entwicklungen unausweichlich." Sollte Kurz nicht von sich aus die Konsequenz ziehen, wolle die FPÖ einen Misstrauensantrag einbringen. Auch die Oppositionspartei Neos forderte Kurz zum Rücktritt auf.

Eine Regierungskrise scheint nun fast unausweichlich. Die Grünen, als Partner der ÖVP seit Januar 2020 mit in der Koalition, hatten stets betont, dass mit ihnen nur eine „saubere Politik“ möglich sei. Das Bündnis aus ÖVP und Grünen wurde zuletzt immer wieder durch Vorwürfe der ÖVP gegen die Justiz belastet. Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler hielt am Mittwoch fest, dass „Angriffe auf die Justiz insgesamt zurückzuweisen“ seien. Der Chefredakteur des Magazins „Falter“, Florian Klenk, schrieb auf Twitter: „Nach erster schneller Lektüre dieses Hausdurchsuchungsbefehls und der darin enthaltenen Chats kann man getrost sagen: Das geht sich jetzt mit der Koalition zwischen ÖVP und den Grünen nicht mehr aus. Game over.“

Der österreichische Politikwissenschaftler Peter Filzmaier geht davon aus, dass Kurz die Ermittlungen politisch zwar zunächst überstehen kann. Dass er an seinem Amt festhalte, werde aber die Polarisierung im Land weiter anheizen, sagte Filzmaier in der „ZiB2“. Das wahrscheinlichste Szenario sei, dass sich die Politik und die Öffentlichkeit nun monate- oder gar jahrelang - bis zum Abschluss des Verfahrens - mit der Frage beschäftigen werde, ob der Kanzler schuldig oder unschuldig sei. Die größten Risiken für Kurz bestünden im Verhalten des grünen Koalitionspartners und in dem der weiteren Beschuldigten. Sollte aus dieser Gruppe jemand Belastendes aussagen, würde eine neue Lage entstehen.

Die Koalition, die nach eigenem Credo das beste aus zwei Parteiwelten verbinden wollte, hatte immer wieder schwierige Momente zu überstehen. Zuletzt plädierten die Grünen in der Flüchtlingsfrage für zumindest humanitäre Gesten, etwa in der aktuellen Afghanistan-Krise. Die ÖVP unter Kurz setzte dagegen ganz auf ihren von vielen Bürgern mitgetragenen harten Anti-Migrations-Kurs.

(peng/th/Reuters/dpa)
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