Protestwelle in Istanbul Machtkampf am Bosporus

Istanbul · Der Plan des türkischen Staatschefs Erdogan, bei Istanbul einen gigantischen Kanal zu bauen, stößt auf wachsenden Widerstand. Für den Bürgermeister der Millionenmetropole ist der Kampf gegen das Projekt ein politisches Geschenk.

  Ein Schlepper befreit ein festgelaufenes Schiff im Bosporus.

Ein Schlepper befreit ein festgelaufenes Schiff im Bosporus.

Foto: AFP/BULENT KILIC

Lange Schlangen bildeten sich zum Jahreswechsel vor den Bauämtern in Istanbul. Die Bürger standen nicht etwa für Baugenehmigungen an. Sie wollten bei der Behörde Petitionen einreichen, um ein kontroverses Projekt zu stoppen: Den Plan des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan zum Bau eines Kanals, der im Westen der Metropole das Schwarze Meer mit dem Marmarameer verbinden soll. Kritiker fürchten schwere und irreparable Umweltschäden.

Erdogan hält trotz der heftigen Widerstände an dem Vorhaben fest: „Ob sie es nun wollen oder nicht, der Kanal wird gebaut“, bekräftigte er noch Ende Dezember. Bei der Auseinandersetzung geht es um weit mehr als das umstrittene Infrastrukturprojekt. Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu profiliert sich in der Kanal-Kontroverse als politischer Gegenspieler des Staatschefs.

Erdogan selbst sprach von einem „verrückten Projekt“, als er das Vorhaben zum Bau des Kanals 2011 erstmals präsentierte: eine 45 Kilometer lange, 400 Meter breite Wasserstraße von Karaburun an der Schwarzmeerküste nach Kücükcekmece am Marmarameer, mit 25 Metern tief genug, um auch die größten Containerschiffe aufnehmen zu können. Der Kanal soll pro Tag 160 Schiffspassagen ermöglichen und den Bosporus entlasten, die bisher einzige Verbindung zwischen den beiden Meeren. Derzeit fahren im Jahr etwa 80.000 Schiffe durch die Wasserstraße. Sie gilt wegen ihrer vielen Kurven, Engstellen, starken Strömungen und häufigen Nebels als schwierige Passage. Immer wieder kam es in den vergangenen Jahrzehnten im Bosporus zu Havarien.

Eines der schwersten Unglücke ereignete sich am frühen Morgen des 15. November 1979, als der mit 95.000 Tonnen Rohöl beladene rumänische Tanker „Independenta“ auf dem Weg von Libyen ins Schwarze Meer den Bosporus passieren wollte und dort mit dem griechischen Frachter „Evriali“ kollidierte. Beide Schiffe gerieten in Brand. Eine knappe Stunde nach dem Zusammenstoß explodierte der Tanker, 43 der 46 Besatzungsmitglieder kamen in den Flammen ums Leben. Im März 1994 verwandelte sich der Bosporus erneut in eine Flammenhölle, als die Tanker „Shipbroker“ und „Nassia“ in der Meerenge zusammenstießen und in Brand gerieten. 19 Seeleute starben. Im April 2018 krachte der unter maltesischer Flagge fahrende Frachter „Vitasprint“ nach einem Motorschaden in eine der hölzernen Villen am asiatischen Ufer des Bosporus. Das jüngste Unglück liegt erst kurz zurück: Am 27. Dezember lief das Containerschiff „Songa Iridium“ auf Höhe des Istanbuler Stadtviertels Sariyer auf Grund.

Solche Havarien soll es in Zukunft nicht mehr geben. Erdogan will den Schiffsverkehr aus dem Bosporus in den geplanten „Kanal Istanbul“ verlagern. Beiderseits der künstlichen Wasserstraße plant der Staatschef zwei neue Trabantenstädte für 1,2 Millionen Bewohner. Das Vorhaben reiht sich in andere Megaprojekte ein, die Erdogan in den vergangenen Jahren verwirklicht hat, wie die dritte Bosporus-Brücke, einen Bosporus-Eisenbahntunnel von Europa nach Asien, die größten Moschee Istanbuls auf dem Camlica-Hügel oberhalb der Meerenge und den neuen Istanbuler Flughafen, der einmal der größte Airport der Welt sein soll. Mit dem Kanal Istanbul würde sich Erdogan ein weiteres Denkmal in seiner Heimatstadt setzen, wo seine politische Karriere 1994 mit der Wahl zum Oberbürgermeister begann.

Die Baukosten für die Wasserstraße werden auf zehn bis 20 Milliarden Euro veranschlagt. Befürworter argumentieren, das Projekt werde der türkischen Wirtschaft einen Wachstumsschub geben. Erdogan verspricht 10.000 neue Arbeitsplätze. Kritiker warnen, die Kosten könnten am Ende doppelt so hoch sein wie veranschlagt und fragen, wie die Türkei angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise ein solches Projekt finanzieren will. Der angesehene Ökonom Mustafa Sönmez hält das Vorhaben ohnehin für unsinnig: „Es entbehrt jeder wirtschaftlichen Vernunft“, sagt Sönmez. Der 1923 geschlossene Meerengen-Vertrag von Montreux garantiert Handelsschiffen die freie Passage durch den Bosporus und die Dardanellen. Warum sollten Reeder für die Fahrt durch den geplanten Kanal dann teure Gebühren zahlen?

Schwerer als die ökonomischen Bedenken wiegen die ökologischen Einwände gegen das Projekt. Der World Wildlife Fund warnt vor „unumkehrbaren Schäden für die Flora und Fauna“ der Region. Der Umweltingenieur Cemal Saydam von der Hacettepe Universität fürchtet, dass durch den Kanal belastetes, sauerstoffarmes Wasser aus dem Schwarzen Meer ins Marmarameer fließen und dort die Fischbestände schädigen wird. Aber auch die Menschen sind bedroht. Der türkische Naturschutzbund DHKD sieht Gefahren für die Trinkwasserversorgung der 16-Millionen-Metropole Istanbul: Der Kanal schneidet durch Waldgebiete, die das Regenwasser speichern, und könnte dazu führen, dass salziges Meerwasser ins Grundwasser eindringt. Der Geologieprofessor Naci Görür warnt vor den Gefahren, die dem Kanal durch die hohe Erdbebenaktivität in der Region Istanbul drohen.

Zu den Kritikern des Vorhabens gehört auch Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu. Als Kandidat der Opposition hatte Imamoglu bei der Kommunalwahl im vergangenen Juni gegen den erbitterten Widerstand Erdogans das Rathaus der Bosporus-Metropole erobert, die bis dahin 25 Jahre lang von islamistischen Bürgermeistern regiert wurde. Jetzt kämpft Imamoglu gegen Erdogans Kanal-Pläne. Er bezeichnet das Vorhaben als „Desasterprojekt“, als „Verrat an unserem Land, dieser Stadt und ihren Bürgern“. Nach einer Umfrage vom Dezember sind zwei von drei Bewohnern Istanbuls gegen den Kanal.

Verhindern kann Imamoglu das Projekt zwar letztlich wohl nicht. Aber mit seiner Kampagne positioniert sich der populäre Bürgermeister einmal mehr als politischer Herausforderer des mächtigen Staatschefs. Seit seinem Sieg bei der Kommunalwahl gilt der 49-jährige Imamoglu vielen Türken als Hoffnungsträger, der bei der spätestens 2023 fälligen Präsidentenwahl Erdogan ablösen könnte.

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