Streit um Spielplatz Spaltung zwischen orthodoxen und säkularen Juden in Israel wächst

Harisch · Reibungen zwischen ultraorthodoxen Juden und weltlich orientierten Israelis hat es in der 75-jährigen Geschichte des Staates immer wieder gegeben. Aber unter der Regierung von Netanjahu haben sie sich verschärft.

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu nimmt an einer wöchentlichen Kabinettssitzung im Büro des Premierministers in Jerusalem teil. (Symbolfoto)

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu nimmt an einer wöchentlichen Kabinettssitzung im Büro des Premierministers in Jerusalem teil. (Symbolfoto)

Foto: AP/Ronen Zvulun

In einem Indoorspielplatz in Harisch in Israel werfen sich die Kinder in ein Bällebad und turnen auf dem Klettergerüst. Einige futtern Popcorn, Musik, Lachen und Geschrei hallen durch den Kellerraum. Am 20. Mai, einem Samstag, wurde der Spaß auf dem Spielplatz aber jäh unterbrochen, als mindestens ein Dutzend Ultraorthodoxe auftauchten und den Eingang blockierten. Der Betrieb des Spielplatzes entheilige den jüdischen Schabbat, an dem nach jüdischem Glauben keine Arbeit verrichtet werden soll, sagten sie. Einige aufgebrachte Eltern gerieten in eine Rauferei mit den Ultraorthodoxen. Und Harisch war schlagartig zu einem Symbol für das geworden, was sich zunehmend in Israel abspielt: ein Kampf zwischen säkularen und orthodoxen Juden.

„Ich glaube, es spiegelt wider, was im Land vor sich geht“, sagt Zipi Brayer Scharabi, eine 38-jährige Mutter, die nach eigenen Angaben während des Vorfalls am 20. Mai auf den Boden geworfen wurde und sich den Ellenbogen brach. „Ich möchte, dass meine Kinder so leben können, wie sie gerne leben wollen. Ich möchte nicht, dass jemand ihnen sagt, wie sie essen, wie sich anziehen und was sie am Schabbat tun sollen.“

Ähnliche Vorfälle haben sich in der Vergangenheit immer wieder mal ereignet, das Verhältnis zwischen den beiden Gemeinschaften ist seit jeher heikel. Aber noch nie hatten ultraorthodoxe Parteien so viel Einfluss. Sie sind gewichtiger Teil der rechtesten Regierung in der Geschichte Israels und treiben den äußerst umstrittenen Plan für einen Umbau des Justizsystems an. Säkulare Israelis erfüllt das zunehmend mit Sorge, dass die Ausrichtung und die Zukunft ihres Landes ernsthaft bedroht sind.

Der politische Einfluss der Charedim, wie sich die Ultraorthodoxen nennen, hat für sie auch finanzielle Vorteile. Sie erhalten massive Zuwendungen aus dem Staatshaushalt. Kritikern zufolge wird das ihre isolierte Lebensweise nur noch vertiefen und Israels wirtschaftliche Perspektiven schwächen - zumal die ultraorthodoxe Bevölkerung schneller anwächst als jede andere Gruppe, jährlich ungefähr um vier Prozent.

„Wir haben zwei Kinder. Sie haben zehn Kinder. Sie werden früher oder später hier die Mehrheit sein“, sagt Brayer Scharabi, eine säkulare Israelin. „Was wird mit diesem Ort passieren, wenn sie die Mehrheit haben?“

Israels Ultraorthodoxe machen derzeit 13 Prozent der 9,7 Millionen Einwohner aus. Die Charedim liegen seit Langem mit der säkularen Mehrheit über Kreuz, was etwa die Wehrpflicht, ihre Integration in das Berufsleben und generell die Prinzipien betrifft, denen ihr Leben folgt. Die vielen Differenzen zwischen religiösen und säkularen Juden haben den Staat in den 75 Jahren seines Bestehens stets belastet. Aber unter der Regierung von Benjamin Netanjahu hat sich bei den säkularen Israelis das Gefühl verstärkt, dass sie ihren Lebensstil vielleicht eines Tages nicht mehr bewahren können.

Netanjahu wischt derartige Besorgnisse und Kritik beiseite, sagt, dass die Ultraorthodoxen israelische Bürger seien, die finanzielle Zuwendungen verdienten, und dass er daran arbeite, sie in die Erwerbsbevölkerung zu integrieren.

Die Charedim leben zumeist in separaten Städten oder Stadtteilen, und im Gegensatz zu den meisten säkularen Juden wird der weitaus größte Teil von ihnen nicht zum Wehrdienst eingezogen – dank eines jahrzehntealten Systems, das ihnen erlaubt, stattdessen religiöse Schriften zu studieren. Viele tun das weit in ihr Erwachsenenleben hinein und sind nicht erwerbstätig, leben von staatlichen Zuwendungen – zur Verärgerung der steuerzahlenden Mittelschicht im Land.

Ultraorthodoxe Schulen lehren zumeist auch keine Grundfächer wie Mathematik oder Englisch, und Experten sagen, dass die Menschen dadurch nur wenig befähigt seien, um ins Arbeitsleben einzutreten. Das wiederum sei ein Rezept für Armut und zunehmende Abhängigkeit von Regierungshilfen.

Die Ultraorthodoxen halten dagegen, dass ihre Kinder gleichwohl eine robuste finanzielle Bildungsförderung verdienten und die insularen Gemeinden eine jahrhundertealte Lebensweise schützten. Ihre Anführer argumentieren zudem, dass sie zur Wirtschaft beitrügen, indem sie viele Verbrauchsgüter für ihre großen Familien benötigten und damit erhebliche Summen an Mehrwertsteuern entrichteten.

Jinon Asulai von der ultraorthodoxen Schas-Partei hielt kürzlich eine flammende Rede in der Knesset, in der er das „wilde Anstacheln von grundlosem Hass“ gegen die Charedim anprangerte. Zuvor hatte eine populäre TV-Moderatorin die ultraorthodoxe Gemeinschaft als „Blutsauger“ bezeichnet. „Ich habe nicht vor, mich dafür zu entschuldigen, charedisch zu sein“, sagte der Parlamentarier.

Der auf sozioökonomische Forschung spezialisierte Volkswirtschaftler Dan Ben-David wendet sich seit Langem gegen das, was er als bevorzugte Behandlung der Ultraorthodoxen bezeichnet. Er meint, dass die im Staatshaushalt festgelegten großzügigen Subventionen und die politische Macht der streng Religiösen einen Einblick in Israels Zukunft vermittelten. „Es geht kein Tag vorbei, an dem wir nicht mit einem klaren Bild von dem überschwemmt werden, wie das Leben (unter einer ultraorthodoxen Mehrheit) aussehen wird“, so Ben-David.

Die umgerechnet Dutzenden von Millionen Euro an finanziellen Zuwendungen im jüngsten Mai verabschiedeten Haushalt haben säkulare Israelis empört. Bei wöchentlichen Protesten gegen die von Netanjahu angestrebte Justizreform sind manchmal antireligiöse Themen aufgegriffen worden, insbesondere mit Blick auf eine gerichtlich gesetzte Frist, nach der Netanjahu bis zum 31. Juli ein neues Gesetz in Sachen Einberufung Ultraorthodoxer zum Wehrdienst vorlegen muss.

Und sorgte der Vorfall am Indoorspielplatz in Harisch für besondere Schlagzeilen, gab es auch andere Zeichen für die weit auseinandergehenden gesellschaftlichen Ansichten. So sprach ein einflussreiches ultraorthodoxes Mitglied in Netanjahus Koalition, Mosche Gafni, in einer Haushaltsdebatte das in seinen Augen zu offenherzige Outfit der israelischen Sängerin Noa Kirel beim jüngsten Eurovision Song Contest an, bei dem sie einen stolzen dritten Platz erreichte. „Ich würde ihr auch etwas Kleidung spenden“, so Gafni, „damit sie welche haben kann.“

(albu/dpa)
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