Aufruhr im Irak Die Revolutionäre aus Sadr City

Bagdad · Die meisten irakischen Regierungsgegner kommen aus einem schiitischen Viertel in Bagdad. Das macht sie für die Mächtigen so gefährlich.

 Eine Demonstrantin bemalt eine Betonsperre im Zentrum von Bagdad. Die Proteste gehen trotz des Rücktritts von Premierminister Mahdi weiter.

Eine Demonstrantin bemalt eine Betonsperre im Zentrum von Bagdad. Die Proteste gehen trotz des Rücktritts von Premierminister Mahdi weiter.

Foto: AFP/AHMAD AL-RUBAYE

„Wir schmeißen Sie raus, wir schmeißen alle raus!“, ruft der junge Mann in seinem feuerroten Tuk-Tuk, einer dreirädrigen, motorisierten Rikscha, und fährt durch Sadr City, das Schiiten-Viertel von Bagdad. Jeden Morgen um sieben Uhr nimmt Hussein an einem der unzähligen Fast-Food-Läden sein Frühstück ein, isst Suppe und Machlama, eine Eierspeise mit Tomaten, Zwiebeln und Käse. Dazu gibt es irakisches Hobbes, ein rautenförmiges Brot, das um diese Uhrzeit warm serviert wird. Dass es dem 17-jährigen Hussein schmeckt, sieht man ihm an. Tagsüber fährt er Menschen in Sadr City, kauft ein für die, die nicht gehen können oder macht Botendienste. Aber um 21 Uhr geht’s dann zum Tahrir-Platz, zu den Demonstranten. Meistens bleibt er fünf Stunden dort.

Auch nach dem Rücktritt von Premierminister Adel Abdul Mahdi gehen die Proteste im Irak weiter. Die Demonstranten wollen nicht weichen, bevor nicht alle ihre Forderungen erfüllt sind. Sie wollen eine komplette Umstrukturierung des politischen Systems, die Schluss macht mit der ethnischen und religiösen Proporzaufteilung und vor allem jungen Leuten mehr Recht auf Mitsprache gewährt. Seit zwei Monaten gehen Millionen Iraker in Bagdad und den südlichen Provinzen des Landes dafür auf die Straßen. Der Protest gegen die Regierung eint alle Volksgruppen: Schiiten, Sunniten, Christen, Araber, Kurden, Assyrer, Turkmenen. Der Vielvölkerstaat Irak erfährt seine nationale Vereinigung am Tahrir-Platz.

Sadr City, auf Arabisch Medina al-Sadr genannt, ist das größte Slum der irakischen Hauptstadt. Hier leben mehrheitlich schiitische Araber, und die meisten die drei Millionen Einwohner sind arm. Wer es zu etwas bringt, zieht an den Rand von Sadr City, in die Palästinastraße oder gleich in einen anderen Bezirk. Doch es sind nicht viele, die von hier wegziehen. Es sind mehr, die hierher kommen. Sadr City platzt aus allen Nähten. Nach dem Sturz der Monarchie 1959 ließ der neue Premierminister General Abdel Karim Qasim das Terrain als Siedlungsgebiet für Iraker ausweisen, die massenhaft aus den südlichen Provinzen in die Hauptstadt strömten. Er nannte den neuen Stadtteil „Medina al Thaura“, Stadt der Revolution. Und das ist Sadr City heute wieder.

Die meisten der Demonstranten am Bagdader Tahrir-Platz kommen von hier. Die Straßenkämpfer, die die Tigris-Brücken eroberten, mit dem Ziel, die Stadt lahmzulegen, ebenfalls. „Wir machen Revolution“, sagt Hussein stolz. Aber dieses Mal gehe sie vom Volk aus und nicht wie Ende der 50er Jahre vom Militär. Schon werden Stimmen laut, Sadr City wieder in Medina al Thaura umzutaufen.

Hussein hält sein Tuk-Tuk an und zeigt auf einen Parkplatz, wo reihenweise diese gelben und roten Wägelchen stehen. Sie sind zu den Helden der Protestbewegung geworden. Die „Revolutionszeitung“ ist nach ihnen benannt, unzählige Graffitis zeigen die kleinen, wendigen Rikschas in Aktion. Hier auf dem Parkplatz in Sadr City werden sie gewaschen und repariert, wenn sie vom Einsatz am Tahrir-Platz zurückkommen, werden aufgetankt, bevor sie wieder dorthin fahren.

An normalen Tankstellen dürften sie nicht tanken, sagt Hussein, sie müssten auf der Straße Benzin aus Kanistern kaufen. Und tatsächlich sieht man überall in Sadr City mobile Tuk-Tuk-Tankstellen, die den Treibstoff entweder in Flaschen oder in Kanistern verkaufen. Hussein macht den Motor wieder an, und weiter geht es durch das stinkende Armenviertel Bagdads.

„Wir transportieren die Verletzten ins Krankenhaus, kümmern uns um sie. Die würden sie sonst liegen lassen“, ist sich Hussein sicher. Auf die Frage, wer „die“ sind, antwortet er: „Die, die auf uns schießen.“ Mittlerweile gibt es fast 400 Tote und bis zu 15.000 Verletzte in Bagdad und den südlichen Provinzen. Seit dem Rücktritt des Premiers ist etwas Ruhe eingekehrt. Auf beiden Seiten scheint eine Atempause vereinbart worden zu sein. Lediglich in Najaf, 180 Kilometer südlich von Bagdad, gibt es noch brennende Barrikaden und Verwüstungen.

Zunächst war die Regierung wie gelähmt, als die Proteste am 1. Oktober begannen, reagierte nicht, schien abgetaucht. Dann kehrten Premier und Minister auf die politische Bühne zurück, sprachen von Reformen und Veränderungen, aber auch davon, dass die Proteste mit allen Mitteln gestoppt werden müssten. Die Demonstranten hielten die Reformpläne des Premiers für einen durchschaubaren Versuch, der Regierung Zeit zu verschaffen. „Sie kidnappten diejenigen, die sich in der Protestbewegung als Anführer hervortaten, bedrohten deren Familien“, sagt Hussein. „Wie sollten wir denen noch glauben?“

Fernsehsender, die über die Proteste berichteten und die Demonstranten zu Wort kommen ließen, wurden abgeschaltet oder wurden zum Ziel von Razzien. So wurden beim kurdischen Sender NRT sämtliches technisches Gerät zertrümmert, Computer und Laptops entwendet. Die internationale Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen berichtete von massiven Drohungen gegen Journalisten, die über die Ereignisse berichteten. 33 Medienvertreter sollen seit Beginn der Proteste von unbekannten Milizionären bedrängt worden sein. Der Journalist und Schriftsteller Amjed al Dahamat wurde am 7. November in der südirakischen Provinz Misan erschossen.

„Sie müssen alle weg“, sagt Hussein leise, aber sehr bestimmt. „Alle sind Diebe und Räuber und inzwischen auch Mörder.“ Der Rücktritt des Premiers allein reiche nicht. Und Iran? Was ist mit dem Nachbarn, der den Zorn so vieler Demonstranten auf sich zieht? Hier hält sich Hussein bedeckt und schaut sich nach allen Seiten um, sagt dann kurz: „Unsere Regierung ist vom Iran gesteuert, ich bin gegen die Regierung.“ So kurz und knapp, wie es der junge Hussein auf den Punkt bringt, drücken sich die anderen Gesprächspartner in Sadr City nicht aus. Doch der Tenor ist bei allen der gleiche: Die Leute haben die Nase voll von Klerikern, die nichts an dem erbärmlichen Zustand der Stadt ändern, sondern nur darauf bedacht sind, die eigenen Taschen zu füllen.

Nach der Invasion der Amerikaner und Briten 2003 wurde das Viertel, das damals Saddam City hieß, in Sadr City umbenannt – im Gedenken an den von Saddam ermordeten Großajatollah Mohammed Sadiq al Sadr, den Vater des heutigen Schiiten-Führers Moktada al Sadr. Insbesondere Schiiten, die unter dem Diktator verfolgt wurden, hatten sich hier niedergelassen. Moktada gründete eine Miliz, die Mahdi-Armee, die zeitweise bis zu 50.000 Mann zählte. Seine Milizionäre versetzten ganz Bagdad in Angst und Schrecken. Todesschwadronen verfolgten und töteten diejenigen, die mit dem Regime Saddams irgendwie verbunden waren. Wurden die Mahdi-Armee oder Sadr City erwähnt, verfielen die Menschen in Schockstarre. Nach dem Abzug der Amerikaner aus dem Irak 2011 brüstete sich Moktada al Sadr damit, dass er 6000 Anschläge auf US-Truppen verübt habe. Sadr City stellte eines der größten Sicherheitsrisiken für die amerikanische Besatzungsmacht dar.

„Dreiviertel von Moktadas Leuten sind Diebe“, sagt Haider, ein mit Hussein befreundeter Tuk-Tuk-Fahrer, „wie alle anderen auch“. Sie brächten Millionen außer Landes, einige hätten zwei Pässe. Sechs Ministerien seien mit Moktadas Leuten besetzt. Religion sei für sie nur ein Geschäft, „mit dem sie uns klein halten“. Dabei gab der heute 45-jährige Moktada al Sadr einst den Rächer der Armen, wurde zum Robin Hood von Sadr City, stellte sich 2016 an die Spitze der Demonstrationsbewegung, die damals gegen zu wenig Strom und schlechtes Wasser protestierte. Seine Anhänger stürmten die Grüne Zone, Bagdads schwer bewachten Regierungsbezirk, setzten sich auf die Stühle der Abgeordneten im Parlament und forderten Mitbestimmung.

Aus den Wahlen vom Mai 2018 ging das Bündnis Sai’run, das Moktada al Sadr geschmiedet hatte und so etwas wie eine Bürgerbewegung darstellte, als Sieger hervor. Es herrschte Aufbruchstimmung. Auch in Sadr City. Die Hoffnung war groß, dass sich das Leben verbessern würde, wenn Leute aus dem Volk an der Regierung seien. „Doch sie haben uns getäuscht und betrogen“, kommentiert Haider. Inzwischen fährt Moktada al Sadr einen Ferrari, schickt seinen Sohn als irakischen Botschafter nach Südamerika, fliegt zu Autorennen in den Iran.

„Wir werden nicht aufhören, bis sie alle weg sind“, sagen Hussein und Haider übereinstimmend. „Irak den Irakern!“ Wenn jemand tatsächlich eine Revolution im Irak hinbekommen könne, dann seien das die Leute aus Sadr City, so hört man es auch es in den anderen Bezirken Bagdads.

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