Anschläge von Brüssel In der EU-Sicherheitspolitik herrscht Chaos

Brüssel/Berlin · Die Terroranschläge in der belgischen Hauptstadt haben Politik und Öffentlichkeit erneut aufgeschreckt. Die Sicherheitsapparate in der EU tauschen zu wenig Informationen aus. Das soll sich jetzt ändern.

 Belgische Polizei durchsucht Metro-Reisende in Brüssel.

Belgische Polizei durchsucht Metro-Reisende in Brüssel.

Foto: afp, PH

Er soll einer der Drahtzieher der Brüsseler Anschläge gewesen sein: Der europaweit gesuchte mutmaßliche Terrorist Najim Laachraoui konnte sich vorher unbeschwert auf dem halben Kontinent bewegen, obwohl er einigen Sicherheitsbehörden als möglicher Gefährder offenbar bekannt war. So hielt er sich angeblich im September vergangenen Jahres für eine Nacht im unterfränkischen Örtchen Geiselwind auf - und das gemeinsam mit dem mittlerweile festgenommenen Drahtzieher der Pariser Anschläge, Salah Abdeslam. Beide sollen davor auch zusammen in Österreich und Ungarn gewesen sein. "Wenn Terroristen quer durch Europa reisen können, haben wir ein Sicherheitsproblem", sagte CDU-Politiker Wolfgang Bosbach unserer Redaktion.

Mangelnde Zusammenarbeit der Geheimdienste

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sieht den Grund für diese "Reisefreiheit" in einer mangelnden Zusammenarbeit der Geheimdienste in Europa. "Es nützt nichts, wenn jede Behörde auf ihren Informationen sitzt und sie nicht mit anderen teilt", sagte de Maizière im RTL-"Nachtjournal". In Folge der Terroranschläge von Brüssel forderten erneut etliche Politiker eine bessere Kooperation der Dienste. Auch die Polizei sieht massiven Verbesserungsbedarf. "Es kann nicht sein, dass es in Zeiten eines vereinten Europa keine vereinte Datenbank gibt, in der alle Islamisten geführt werden und auf die alle Sicherheitsbehörden jederzeit Zugriff haben", kritisierte Arnold Plickert, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei in Nordrhein-Westfalen. "Bislang ist es sehr oft so, dass die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut."

Eigentlich sollen alle EU-Mitgliedstaaten ihre jeweiligen Informationen über terroristische Aktivitäten an die europäische Polizeibehörde Europol in Den Haag weitergeben - doch das ist mehr Theorie als gängige Praxis. Denn bislang liefern nur fünf Staaten in vollem Umfang Informationen an Europol. Deutschland gehört nicht dazu. "Es fehlt am notwendigen Willen, alle geheimen Informationen an Dritte weiterzugeben", erklärt ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes. "Keiner teilt gerne seine Quellen - schon gar nicht mit fremden Staaten." Neben einer fehlenden zentralen Datenbank mangelt es aber besonders an einheitlichen Standards in der gemeinsamen Terrorabwehr. Ein großes Problem bestehe vor allem darin, dass die verschiedenen europäischen Sicherheitsbehörden die sogenannten Gefährder nach unterschiedlichen Kriterien bewerten. "Es ist zwingend nötig, dass wir in Europa eine einheitliche Definition für den Begriff ,Gefährder' bestimmen", betonte Bosbach. Bislang sei es so, dass zum Beispiel in Deutschland eine Person als potenzieller Terrorist geführt werde, diese aber etwa in Belgien nicht so eingestuft werde. In Deutschland gilt als Gefährder, wer nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden in der Lage ist, einen Anschlag zu planen und durchzuführen, Mitglied einer terroristischen Vereinigung oder Kriegsrückkehrer ist.

Beim GTAZ läuft alles zusammen

Innerhalb Deutschlands laufen alle Informationen im Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin zusammen. Das ist eine gemeinsame Koordinierungsstelle der Sicherheitsbehörden der Länder und des Bundes. Beliefert wird das Zentrum vor allem mit Erkenntnissen über islamistischen Terrorismus der Landeskriminalämter (LKA) und des Bundeskriminalamtes (BKA). Durch diesen länderübergreifenden Informationsaustausch sollen mögliche Bedrohungen früh erkannt werden können. Nach Überzeugung von Wolfgang Bosbach funktioniert diese Institution gut. "So muss es auch in Europa laufen."

Geplant ist ein solches gemeinsames Anti-Terror-Zentrum der europäischen Geheimdienste zusammen mit der Schweiz und Norwegen. Bis zum Sommer soll es in der Nähe von Den Haag eingerichtet werden, wie der Chef des niederländischen Dienstes AIVD im Februar bekannt gegeben hatte. Das Zentrum soll den 30 Mitgliedern der Counter Terrorism Group (CTG, deutsch: Anti-Terror-Gruppe) als Plattform zum Informationsaustausch dienen. Die CTG existiert seit 2004 und war als Konsequenz der Terroranschläge vom 11. September 2001 gegründet worden.

Sicherheitsexperten haben daran so ihre Zweifel: "Nach außen hin sieht so eine neue Behörde zwar schick aus, aber sie nützt nichts, wenn die Geheimdienste ihre Erkenntnisse wie bisher lieber weiter für sich behalten wollen, als sie mit anderen zu teilen", so ein Insider. Diesen Meinungsumschwung habe er innerhalb der Geheimdienste bislang nicht feststellen können. Die EU-Innenminister wollen schon heute auf einem Sondergipfel über einen besseren Datenaustausch beraten. Belgien hatte darum gebeten. Ein ähnliches Sondertreffen hatte es nach den Anschlägen von Paris im vergangenen November gegeben.

Ein eigener Geheimdienst?

Möglicherweise wird dann auch über einen eigenen europäischen Geheimdienst gesprochen. Denn auch den gibt es nicht. Vorschläge gab es häufig - stets nach Terroranschlägen in Europa oder mit europäischem Bezug. Zuletzt hatten die Belgier bei der EU-Kommission einen entsprechenden Vorstoß unternommen, da sie sich mit der Aufklärung und den Folgen der Attentate von Paris überfordert sahen. Es gibt allerdings eine Beratungsbehörde, die den Auswärtigen Dienst der EU berät, das Intcen (Intelligence Analysis und Situation Center). Diese Behörde, die bislang eher politisch-strategische Analysen lieferte, wurde zu Beginn des Jahres auf neue Füße gestellt und soll künftig auch bei der Aufklärung gegen Terror helfen. Neuer Chef der Institution ist seit Jahresbeginn Gerhard Conrad, ein erfahrener und erfolgreicher Spion des Bundesnachrichtendienstes, der lange Zeit im Nahen Osten tätig war. Manch einem galt er sogar als deutscher James Bond. Er hat nun die Aufgabe übernommen, die Erkenntnisse der Dienste besser zusammenzuführen.

Seit den Pariser Anschlägen haben die Europäer ihre Anstrengungen zur Kooperation der Geheimdienste zwar verstärkt. Das passiert aber so langsam, dass die angestrebten neuen Warnsysteme Brüssel nicht verhindern konnten. Wolfgang Bosbach sieht da auch die belgischen Behörden in der Pflicht: "Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, wieso sie den Drahtzieher der Pariser Anschläge so lange nicht entdeckt haben, obwohl er quasi vor ihrer Haustür lebte." Wegen der anhaltenden Terrorgefahr werden zudem die Schengen-Außengrenzen bereits strenger kontrolliert. Europol vermutet, dass sich aber schon bis zu 5000 kampfbereite Islamisten in der EU aufhalten, die sich unbehelligt in Zentraleuropa bewegen können - so wie der gesuchte Drahtzieher der Brüsseler Anschläge, Najim Laachraoui.

In der Politik werden schon Stimmen laut, auch die Grenzen innerhalb von Schengen wieder strenger zu kontrollieren. "Eigentlich müsste man bestimmte Grenzen in Europa vorübergehend komplett schließen, bis alle Mitglieder der Brüsseler Zelle geschnappt sind", sagte ein CDU-Politiker unserer Redaktion, der anonym bleiben möchte. Die Polizei warnte allerdings davor, das dafür benötigte Personal fehle.

(qua)
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