Nicht nur in Corona-Zeiten Der Deutschen Lust am Lüften

Düsseldorf · „Dauer-“ „Stoß-“ und „Querlüften“: Was hierzulande in unzähligen Haushalten normal erscheint, imponiert in Corona-Zeiten im Ausland.

 Lüften – vielleicht nie so wichtig wie im Moment.

Lüften – vielleicht nie so wichtig wie im Moment.

Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Als Stubenhocker sind die alten Germanen nicht gerade bekannt. Ihr Alltag spielte sich zum großen Teil draußen an der frischen Luft ab. Aber schon damals achteten unsere Vorfahren darauf, dass auch ihre Behausungen gut gelüftet werden konnten, denn oftmals waren sie reichlich verqualmt. Damit der Rauch vom Herdfeuer leichter entweichen konnte, gab es im Dach ihrer finsteren Katen eine geschwungene Öffnung, die aussah wie ein Auge. Man entdeckt diese Form noch heute an manch schmuckem Einfamilienhaus. „Windauge“ nannten die Altvorderen den Abzug, aber bei ihnen klang das hübsche Wort einen Hauch anders. Etwa so, wie es die Engländer heute noch aussprechen, wenn sie „window“ sagen.

Während sich auf den britischen Inseln der ursprüngliche germanische Begriff für Fenster gehalten hat, schleicht sich auf dem Festland schon im achten Jahrhundert das lateinische „fenestra“ ins Althochdeutsche ein. Vielleicht fanden die Leute, dass es sich schicker und moderner anhörte. Wie auch immer. Tatsache ist, dass sich das Volk der Dichter und Denker im Lauf der Zeit auch zu einem von Liebhabern ausgesprochen dichter Fenster entwickelte, wohingegen es in nicht wenigen Altbauten im angelsächsischen Raum bis auf den heutigen Tag so erbärmlich zieht, als wären noch die früheren Windaugen in Betrieb.

„Ich denke an dichte Fenster! Kein anderes Land kann so dichte und so schöne Fenster bauen", sagte selbst Angela Merkel einmal der „Bild“-Zeitung auf die Frage, was ihr beim Stichwort Deutschland so alles in den Sinn komme. Lange her. In diesen Tagen mahnt die Bundeskanzlerin eher das an, was nicht zuletzt mit dem Schwund an natürlicher Frischluftzufuhr in geschlossene Räume hierzulande stets einherging: die Kultur des Lüftens.

Eine sehr deutsche Kultur, geradezu eine „nationale Obsession“, wie der britische „Guardian“ unlängst befand, in dessen Verbreitungsgebiet der ein oder andere Virologe nun ebenfalls empfiehlt, öfter mal auf Durchzug zu schalten, um auf Aerosolen zum Angriff ansetzende Coronaviren loszuwerden. Viele Deutsche öffneten ihre Fenster gewöhnlich zweimal am Tag – sogar im Winter und bedienten sich dabei ausgefeilter Techniken, verriet die Zeitung ihren staunenden Lesern: „Querlüften“ sei üblich, „Stosslüften“ gar. Obendrein seien deutsche Fenster mit ausgeklügelter Mechanik versehen, die verschiedenste Grade der Öffnung erlaube: „In Germany, windows are designed with sophisticated hinge technology that allows them to be opened in various directions to enable varying degrees of Lüften.“

Lüften. Ein faszinierendes deutsches Wort, noch dazu eins mit Umlaut, bereichert gerade den Sprachschatz eines Landes, das normalerweise massenhaft Anglizismen exportiert. Crazy! Dabei klingt „lüften“ natürlich deutlich sympathischer als „Blitzkrieg against Corona“, wie es der „Sun“ mit Blick aufs deutsche Stoßlüften einfallen könnte.

Die deutsche Lust auf frische Luft kommt nicht von ungefähr. „Off'nes Fenster Tag und Nacht/Hat manchem schon viel Heil gebracht“, lautet ein altes deutsches Sprichwort, wobei der Interpretationsspielraum dieses Zweizeilers zugegebenermaßen reichlich Luft nach oben bietet. Aber schon die Epoche des Sturm und Drang bringt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts frischen Wind in die deutsche Literatur. Die Ideen der Aufklärung durchwehen althergebrachte Gedankengebäude. „Zurück zur Natur!“ fordert Jean-Jacques Rousseau seine Zeitgenossen zum Durchatmen auf.

Damit ist es in den Städten jener Tage nicht besonders gut bestellt. Es müffelt extrem von der Gosse her, und die Wissenschaft hält die antike Theorie der Griechen, dass dadurch grassierende Epidemien übertragen werden, keineswegs für erstunken und erlogen. Lust aufs Lüften macht das nicht.

Ein Jahrhundert später haust das aufkommende Industrieproletariat in düsteren, engen, und hoffnungslos überbelegten Bauten, es herrscht permanent dicke Luft. Die Zustände sind so katastrophal, dass in der Weimarer Verfassung sogar das Ansinnen festgeschrieben wird, von Staats wegen jedem Deutschen eine „gesunde Wohnung“ zu sichern. Die Wandervogel-Bewegung stillt die Sehnsucht nach frischer Luft notgedrungen dort, wo sie zu bekommen ist: außerhalb der Städte. Hitler sind diese frühen Ökos suspekt, lieber sollen deutsche Knaben im Jungvolk zum ersten Mal „eine frische Luft bekommen“. Zugleich lässt der Diktator keinen Zweifel am eigentlichen Ziel: „…und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.“

„Licht, Luft und Sonne für alle“ indes avanciert vor hundert Jahren zum Leitgedanken der berühmten Bauhaus-Architektur. Eine gigantische Wohnreform-Bewegung entsteht. Schon 1935 gründet der Stuttgarter Wilhelm Frank eine Firma, die den von ihm erfundenen Dreh-Kipp-Beschlag industriell fertigt, durch den sich Fenster nicht nur seitlich öffnen, sondern auch auf „Kipp“ stellen lassen. Der Wohnungsbau der jungen Bundesrepublik folgte ebenfalls von Anfang an gesundheitspolitischen Grundsätzen mit ausreichend Belüftungs- und Besonnungsmöglichkeiten.

Heute sind die Deutschen eine Nation, in der wenig ungeregelt bleibt - und sie sind nicht zuletzt ein Volk von Mietern. Beides hat dazu beigetragen, dass das Lüften zwecks Vermeidung von Schimmelbildung sogar genauestens vertraglich geregelt ist. Aber im Grunde werden damit gewissermaßen offene Türen eingerannt. Und den wenigen – meist jugendlichen – Lüftungsgegnern in diesem Land geht gerade jetzt ihr wichtigstes Argument flöten: Es sei noch niemand erstunken, aber durchaus schon jemand erfroren. Corona macht’s möglich. Ob Querlüften jedoch bei Querdenkern hilft, darf bezweifelt werden.

(RP)
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