Kolumne „Himmel und Erde“ Marathon-Gottesdienst fürs Leben

Wesel · Während eines fast 100-tägigen Gottesdienstes in Den Haag haben mehr als 700 Pfarrer mehrerer Ländern rund um die Uhr gebetet, gesungen und gepredigt – und damit eine Familie vor der Abschiebung bewahrt. Nun hat sich die niederländische Regierung auf eine humanitäre Bleiberegelung geeinigt.

 Superintendent Thomas Brödenfeld , Wesel

Superintendent Thomas Brödenfeld , Wesel

Foto: Malz, Ekkehart (ema)

Am Nachmittag des 26. Oktober 2018 begann im niederländischen Den Haag ein Gottesdienst, der nicht enden wollte. Tag und Nacht wechselten sich die Pfarrer in der protestantischen Bethel-Kapelle ab, ohne Pause.

Es ging ihnen nicht um einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde. Es ging ihnen um den Schutz einer Familie. Nun ist dieser Marathon-Gottesdienst nach fast 100 Tagen und über 2000 Stunden Gebet beendet worden. Nach über drei Monaten Kirchenasyl in der Den Haager Kirche darf die Familie Tamrazyan die Bethel-Kapelle endlich wieder verlassen, ohne befürchten zu müssen, verhaftet und abgeschoben zu werden.

Die Tamrazyans – die Eltern und ihre drei Kinder, Hayarpi, 21, Warduhi, 19, und Seyran, 15  sind Christen, die aus Armenien stammen und vor neun Jahren aus politischen Gründen in die Niederlande flohen. Im Sommer 2018 lehnte ein Gericht ihren Asylantrag ab. Nach niederländischem Recht darf die Polizei nur dann in eine Kirche eindringen, wenn dort kein Gottesdienst gefeiert wird. Seit dem 26. Oktober 2018 hatte die protestantische Kirche rund um die Uhr einen Gottesdienst gefeiert, um die armenische Flüchtlingsfamilie vor der Abschiebung zu bewahren.

Das niederländische Gesetz des Kirchenasyls ist aus dem Jahr 1994, aber es geht auf einen mittelalterlichen Brauch zurück, nach dem man in Kirchen Schutz suchen kann. Und dieser Brauch wiederum geht zurück aufs Alte Testament, in dem es heißt, dass Menschen am Altar oder Tabernakel eines Tempels Zuflucht finden können. Das Kirchenasyl ist also tief verwurzelt in der jüdischen und christlichen Tradition.

Während des fast einhunderttägigen Gottesdienstes haben über 700 Pfarrerinnen und Pfarrer aus den Niederlanden, Deutschland und Belgien rund um die Uhr gebetet, gesungen und gepredigt. Damit haben sie wertvolle Zeit gewonnen, um die Familie Tamrazyans vor der sicheren Abschiebung zu bewahren.

Nun hat sich die niederländische Regierung auf eine humanitäre Bleiberegelung geeinigt. Demnach dürfen rund 600 Minderjährige und ihre Familien in den Niederlanden bleiben – auch wenn ihr Asylantrag abgewiesen wurde. Voraussetzung ist, dass die Kinder in den Niederlanden aufgewachsen sind.

Auch in Deutschland gewähren Kirchen in besonderen Härtefällen immer wieder Kirchenasyl, auch in unserem Kirchenkreis. Kirchenasyl will das staatliche Recht nicht unterlaufen, aber in besonderen humanitären Situationen Zeit gewinnen, um laufende oder abgelehnte Asylanträge noch einmal zu überprüfen. So konnte in den meisten Fällen eine neue positive Entscheidung und damit ein Bleiberecht erwirkt werden.

Kirchenasyl ist deshalb kein Kampf gegen das Recht, sondern ein Appell an die Regierung, der Menschlichkeit eine zweite Chance zu geben.

(brödi)
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