Neuss Die Büdchen-Kultur in Neuss stirbt aus

Neuss · Neuss zählt 65 Kioske und 66 Trinkhallen, doch die Zahl der Geschäfte nimmt zu, die schließen – und geschlossen bleiben. Hauptkonkurrent sind die immer länger geöffneten Lebensmittelmärkte. Die Branche steht vor einem Wandel.

 An der RheydterStraße ging die Rechnung nicht auf, das tägliche Brot mit einem eigenen Kiosk zu verdienen.

An der RheydterStraße ging die Rechnung nicht auf, das tägliche Brot mit einem eigenen Kiosk zu verdienen.

Foto: woi

Neuss zählt 65 Kioske und 66 Trinkhallen, doch die Zahl der Geschäfte nimmt zu, die schließen — und geschlossen bleiben. Hauptkonkurrent sind die immer länger geöffneten Lebensmittelmärkte. Die Branche steht vor einem Wandel.

 Auch an der Kapitelstraße lief das Geschäft nicht.

Auch an der Kapitelstraße lief das Geschäft nicht.

Foto: woi

Anfragen von Existenzgründern, die sich mit einem Kiosk oder einer Trinkhalle selbstständig machen wollen, verzeichnet die IHK Mittlerer Niederrhein schon lange nicht mehr. "Dazu wäre auch nicht zu raten", sagt Andree Haack, IHK-Geschäftsführer Existenzgründung und Unternehmensförderung. "Der Markt ist aus unserer Sicht tot." Ist das Büdchen ein Auslaufmodell?

Kiosk und Trinkhalle wurden schon oft totgesagt, zum Beispiel, als das Dosenpfand eingeführt wurde. Doch nie stand es um diese kleinen Betrieb so schlecht wie heute. Schlimmer als andere gesetzliche Reglementierungen setzen ihnen die längeren Öffnungszeiten im Einzelhandel zu. Das Privileg der Büdchen, morgens früher und abends länger als die Lebensmittelmärkte öffnen zu können, ging verloren, als diese anfingen, ebenfalls bis 21 oder gar 22 Uhr geöffnet zu haben. "Es herrscht eine unglaubliche Preissensibilität", sagt Haack — mit der Folge, dass sich viele die Flasche Feierabend-Bier beim Discounter kaufen. "Die Trinkhalle kann ihre etwas höheren Preise am Markt nicht durchsetzen", sagt Haack.

Die Folgen sind an vielen Stellen in der Stadt zu besichtigen, wo Kioske schließen — und geschlossen bleiben. Die Gewerbemeldestelle im Ordnungsamt der Stadt zählt nach Auskunft von Amtsleiter Uwe Neumann zwar noch 65 Kioske und 66 Trinkhallen in Neuss, doch auch jährliche An- und Abmeldungen im zweistelligen Bereich. Für Hans-Hubert Spicker ist das ein Ausdruck großer Fluktuation in diesem Markt.

Spicker kennt das Metier aus beiden Perspektiven. Seit 27 Jahren ist er Verkaufsleiter bei dem Neusser Lebensmittel-Großhandel Cames und dort für die Sortimente in den belieferten Kiosken, Trinkhallen aber auch Tankstellen verantwortlich. Und er ist Inhaber eines Büdchens in Holzheim. Eines von zweien, wie er sagt. "Vor zehn Jahren waren es aber noch sieben."

Als Cames-Verkaufsleiter weiß er: Die Branche braucht Hilfe. Weil sich die Umsätze in Richtung von Produkten verschieben, die — wie etwa Tabak — nur kleine Gewinnmargen aufweisen, führt Cames neue Sortimente ein oder vermittelt auch Lizenzen für Paketannahmen. Hinzu kommen — betriebswirtschaftliche — Beratung oder Hilfe bei Sonderaktionen. Aber weil auch der Lieferant nichts zu verschenken hat, gilt bei Cames in immer mehr Fällen: Kredit wird nicht gegeben. "Damit das Ausfallrisiko nicht zu groß wird", wie Spicker betont.

Als Büdchenbetreiber in Holzheim stellt Spicker fest, dass zwar die Zahl der Kioske kleiner wird, der Umsatz bei den verbleibenden Büdchen aber nicht steigt. Wenn dann über das Sortiment die Einnahmeseite nicht verbessert werden kann, schrumpfen Gewinn — und Stundenlohn. "Viel geht über Selbstausbeutung", sagt Spicker, der im Gegensatz zu anderen einen Vorteil hat: Sein Büdchen ist Eigentum.

Auf Dauer, darin sind sich Experten einig, wird sich der Markt dieser Kleinunternehmen stabilisieren. Neue Sortimente und Dienstleistungen werden aber ihr Gesicht verändern. Immer mehr Direktverzehr zum Beispiel von Kaffee oder Brötchen wird das Büdchen der Zukunft mit dem Imbiss heutiger Prägung verschmelzen.

Mehr denn je wird es künftig auf die Lage ankommen. Ein Parkplatz am Büdchen, eine Schule in der Nähe oder ein Standort an einer Ausfallstraße oder in einer Fußgängerzone werden mitentscheiden, ob ein Konzept funktioniert.

Jenny Mariadou hat sich an einem solchen Standort entschlossen, ihr Glück zu versuchen. Nach dem plötzlichen Tod von ihrem Chef hat sie die Trinkhalle an der Venloer Straße übernommen. "Man kann nicht reich werden, aber man kann überleben", sagt sie. Aber nach 22 Jahren im Kiosk stellt sie auch fest: "Ich kann hier nicht weg."

(NGZ/rl/jco/url)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort