Düsseldorf Die unheimliche Mutter

Düsseldorf · Es lässt einen nicht mehr los: das faszinierende Gemälde von Eugène Carrière in der tollen Kunstpalast-Ausstellung "Black & White".

Und da steht man dann vor diesem Bild, und es trifft und rührt einen, und man kann sich gar nicht davon lösen. Man blickt also auf die Mutter und ihre Tochter, und man denkt, dass die beiden wohl ahnen, dass ein Alleinsein kommen wird, gegen das sie jetzt rasch noch einen Vorrat an Gemeinsamkeit anlegen wollen. Eines Tages werden sie einander vermissen, und so warten sie und wissen nicht, auf was. Aber sie warten zusammen, und das ist, was zählt.

Eugène Carrière hat das Bild um 1896/97 gemalt, und es ist Teil der großartigen Schau "Black & White" über die Geschichte der Schwarz-Weiß-Malerei vom Mittelalter bis zur Gegenwart im Museum Kunstpalast. "Maternité (Souffrance)" lautet sein Titel, "Mutterschaft (Leiden)" also. Man tritt unvorbereitet vor dieses Bild, und was man auf keinen Fall tun sollte, ist, sich dem ersten Eindruck zu ergeben: Das Bild mutet zunächst unheimlich an, gruselig sogar. Es ist unklar, ob das Gesicht der Frau, deren Umrisse sich in der nebeligen und dunklen Umgebung abzeichnen, Spuren einer Krankheit trägt. Schlafen die beiden? Haben sie Schmerzen? Befinden sie sich außerhalb der Zeit? Träumen sie? Man weiß es nicht. Und gerade das ist das Faszinierende an dieser Arbeit, die an Gerhard Richter denken lässt.

Je länger man nun vor diesem Öl-Gemälde verweilt, desto stärker scheint es sich zu verändern. Das Auge gewöhnt sich an die Szenerie aus Grau- und Brauntönen, wie es sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnt, wenn man nachts erwacht. Das Gesicht des Kindes, so hat es nun den Anschein, streut Licht, und um Augen, Nase und Mund der Mutter schimmert es golden, als würden sich die ersten Strahlen des Vorscheins einer Zukunft Bahn brechen. Trotzdem liegt eine enorme Traurigkeit über der Darstellung. Sicher ist nämlich, und so ist das ja immer bei Eltern und Kindern, dass diese zwei Menschen bald aufhören werden, ein Körper zu sein. Sie werden aufhören, untrennbar zu sein.

Eugène Carrière (1849 - 1906) war Symbolist, er malte Zustände der Seele. Heute ist er hierzulande weitgehend vergessen, dabei gehörte er zu den prominenten Figuren im Paris des Fin de Siècle. Die Brüder Goncourt erwähnten ihn vielfach in ihren Tagebüchern, die ja als so etwas wie die gesellschaftliche Live-Mitschrift jener Zeit gelten. Er unterstützte das "J'accuse" von Emile Zola in der Dreyfus-Affäre, galt als politisch denkender Kopf. Er war ein Vertrauter Rodins und porträtierte Verlaine, Daudet und Isadora Duncan. Picasso verehrte ihn und widmete ihm ein Bild, Henry Moore soll mehrere Bilder von ihm besessen haben.

Carrière selbst war von Rubens fasziniert und von William Turner, und erst spät, mit Anfang 40, fand er zu seinem Stil, den man als geisterhaften Realismus beschreiben kann. Ihm ging es darum, Porträts zeitgenössischer Menschlichkeit zu schaffen, er wollte einen Index des Humanen anlegen. Als "pessimistische Madonna" bezeichnete ein Journalist das Bild "Maternité (Souffrance)" damals in einer Besprechung. Man nimmt an, dass der siebenfache Vater Carrière seine Ehefrau Sophie und seine Tochter Elise gemalt hat.

Das Bild mutet an, als drohe es im Licht zu schmelzen. Und wer sich darauf einlässt, wird merken, wie es den Betrachter beunruhigt. Irgendetwas ist ihm eingeschrieben, das allgemeine Gültigkeit über die Jahrhunderte hinaus hat.

Es gibt in dem Roman "Sommerregen" (1990) von Marguerite Duras eine Mutter-Figur, an die man denken muss, während man auf dieses Bild blickt. Auch sie ist rätselhaft und verschwommen, mehr Geist als Körper. Von ihr heißt es, sie lasse "ein tägliches Werk von unsagbarer Bedeutung in sich wachsen", deshalb brauche sie Ruhe und Frieden. "Dass sie auf etwas zuging, die Mutter, das wussten alle. Das war es, das Werk, diese Zukunft, die im Gang war, zugleich sichtbar, unvorhersehbar und unbekannter Natur."

Jedenfalls ist man froh, diesen Künstler kennengelernt zu haben, diesem Werk begegnet zu sein - und damit irgendwie auch sich selbst.

(hols)
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