Achille Mbembe im Düsseldorfer Schauspielhaus „Sicherheit zählt heute mehr als Freiheit“

Im Schauspielhaus sprach mit Achille Mbembe einer der wichtigsten Intellektuellen des afrikanischen Kontinents.

 Achille Mbembe während seines Vortrags im Düsseldorfer Schauspielhaus.

Achille Mbembe während seines Vortrags im Düsseldorfer Schauspielhaus.

Foto: Anne Orthen (ort)

Die intellektuelle Matinee im Düsseldorfer Schauspielhaus beginnt mit Fußball. Mit Überlegungen darüber, ob nun Frankreich oder Afrika der Dank gebührt, will man die französische Nationalmannschaft für ihre Erfolge loben. Zum Kader gehören überwiegend Männer, die ihre Wurzeln in Afrika haben, genauer in Frankreichs ehemaligen Kolonien. Anhand der wichtigsten sportlichen Massenbewegung der Welt sind also die großen Fragen der Gegenwart ablesbar. Sie kreisen um Zugehörigkeit, Identität und Heimat, um Unterdrückung und Freiheit. Robert Koall, Chefdramaturg am Schauspielhaus, ist an diesem Morgen der Türöffner des komplexen Gedankengebäudes von Achille Mbembe. Der preisgekrönte Politikwissenschaftler aus Kamerun hat in Paris studiert und in Berkeley und Yale unterrichtet. Seine Theorien zur gerechten Verteilung von Ressourcen in der Welt gelten als zukunftsweisend und münden in der grundsätzlichen Sorge darum, wie es um die Zukunft der Erde und um die Humanität bestellt ist.

Das Szenario, das Mbembe zeichnet, ist düster und zerlegt entschieden die technologische Zugewandtheit potenter Staaten, denen der Fortschritt nicht nur ein Wert für soziale Normen geworden ist, sondern zugleich als Mittel dient, diese Normen gegen vermeintliche Gefahren zu verteidigen. In der Mobilität des Menschen, sagt Mbembe, mache man neuerdings eine solche Gefahr aus. Das Recht, sich auf dem Planeten, der allen gehöre, frei bewegen zu können, werde in Frage gestellt, es werde nach guter und schlechter Migration unterteilt – danach, wer zu uns gehören dürfe und wer nicht, wer uns nütze und wer nicht. Mbembe nimmt es in seinem Vortrag mit der Furcht der Staaten vor den Flüchtlingsbewegungen auf und schlägt den großen Bogen zu einer Kapitalismuskritik.

Anhand von drei „Megaprozessen“ erläutert er die Verquickung von Erd- und Menschheitsgeschichte einerseits und von geopolitischem Streben und globalen Umweltveränderungen andererseits. Erstens: Die Welthandelsmechanismen des 21. Jahrhunderts haben einer „Unternehmenssouveränität“ den Weg geebnet, die „frei von demokratischer Kontrolle“ sei. Sie bediene sich der menschlichen Natur wie eines Marktes und verarbeite Bedürfnisse und Affekte zu Waren und Dienstleistungen, um das Kapital zu steigern. „Unsere Intimität“, sagt Mbembe, „ist ein Reservoir“ für Gewinnmaximierung geworden. Zweitens: Die technologische Entwicklung codiere die Gesellschaft. Hier nennt Mbembe konkret den Computer, der „Subjekte und Objekte, Bewusstsein und Gedächtnis“ kategorisiere und somit den Akteuren der Unternehmenssouveränität in die Hände spiele. Drittens: Neue Arten der Kriegsführung und technologischer Fortschritt „haben zu einer Neuverteilung der Erde“ und „veränderten Bevölkerungsbewegungen geführt“, worauf vielerorts mit dem „Drang zur Abschließung“ und einer „neuen Vernarrtheit in Grenzen“ reagiert werde. Im Namen der Sicherheit, so Mbembe, würden Migrationsströme kontrolliert. „Körperscreenings an Grenzkontrollstellen“ sollen uns die Entscheidung leichter machen, wer in ein Land einreisen darf und wer nicht. Wer unter uns leben darf und wer nicht. Grenze sei „in immer stärkerem Maße der Name für die organisierte Gewalt, die unserem heutigen Kapitalismus und unserer gesamten Weltordnung zugrunde liegt“.

In den Augen von Mbembe setzt diese Entwicklung die Freiheit als höchste Errungenschaft der Aufklärung herab. „Sicherheit zählt heute mehr als Freiheit“, sagt er. Wo die Menschen ihr kollektives Glück, ihren Lebensstil von Ungewissheiten bedroht sehen, treten Vernunft und Bauchgefühl häufig in einen Wettstreit miteinander. „Im Moment tragen hier Migranten und Flüchtlinge die Hauptlast. Auf lange Sicht ist keineswegs ausgemacht, dass sie die einzigen sein werden“, sagt er.

Eines dieser „Phantasmen“ sei die Angst Europas vor der afrikanischen Migration. Ende des 21. Jahrhunderts werde es in Afrika mehr junge Menschen geben als anderswo auf der Welt. Dann, so Mbembe, werde der Kontinent die Verluste durch Sklavenhandel, Kriege, Kolonialismus und epidemiologische Folgen der vergangenen Jahrhunderte ausgeglichen haben. „Aber die meisten Migranten in Afrika träumen gar nicht davon, nach Europa zu gehen. Sie bewegen sich von einem afrikanischen Land in ein anderes.“ Ihnen stünden 30 Millionen Quadratkilometer Landmasse zur Verfügung. Wenn Europa etwas zur Lösung des „größten Problems unseres Jahrhunderts“, nämlich Armut, Flucht und Vertreibung, beitragen wolle, dann indem es in Afrika investiere.

Zum Schluss des Vortrags gab es langanhaltenden Applaus des Publikums, das angesichts der Dichte der Ausführungen eher angeregt-konzentriert als euphorisch reagierte. „Da gibt es gleich noch einiges zu besprechen – und nachzuarbeiten“, war beim Verlassen des sehr gut besuchten Saals zu hören.

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