Lehrermangel an NRW-Grundschulen Ab heute Lehrerin - eine Seiteneinsteigerin berichtet

Wuppertal · Eigentlich ist unsere Autorin Journalistin, schreibt über Familienthemen, Schule und Erziehung. Doch in NRW werden händeringend Lehrer gesucht – und sie hat den Seiteneinstieg an einer Grundschule im Bergischen Land ausprobiert.

 Viertklässler einer Grundschule melden sich während des Unterrichts (Symbolfoto).

Viertklässler einer Grundschule melden sich während des Unterrichts (Symbolfoto).

Foto: dpa/Frank Molter

„Du musst zuerst streng sein, danach kannst du immer noch nett werden!“ Ich versuche, mich auf diesen Rat einer Kollegin zu konzentrieren, während ich einmal tief durchatme und die Tür des Klassenzimmersschließe. Ich straffe die Schultern, begrüße die 4d und bekomme ein rhythmisch geleiertes „Gu-ten Mor-gen Frau Möl-ler“ zurück. Dass die Situation sich noch sehr fremd anfühlt, ist die Untertreibung des Jahres. Was genau mache ich hier eigentlich?

Ort der Handlung ist eine Kleinstadt im Bergischen Land. „Meine“ Schule ist ein Altbau aus dem frühen 20. Jahrhundert in freundlichem Gelb. 180 Kinder gehen hier zur Schule, ein nicht geringer Anteil hat Migrationshintergrund. Hier werde ich für einige Monate eine krankgeschriebene Lehrerin vertreten. Für befristete Vertretungsstellen kann man sich auch ohne Lehramtsausbildung bewerben, sofern man möglichst einen anderen Hoch- oder Fachhochschulabschluss hat. Denn der Lehrermangel in NRW ist dramatisch, vor allem an Grundschulen.

Gute Zeiten also für Quereinsteiger wie mich. Nachdem ich mehr als 20 Jahre als Journalistin über Familienthemen, Schule und Kindererziehung geschrieben habe, wollte ich die „Seiten wechseln“. Und Grundschullehrerin konnte so schwer nicht sein – dachte ich. Ich mag Kinder, habe Germanistik studiert, kann auch aber auch Mathe, und habe nicht zuletzt zwei eigene Kinder erfolgreich durch die Schulzeit begleitet. Ich bewerbe mich also an mehreren Schulen und werde schließlich angenommen. Zunächst bin ich einige Wochen mit der Klassenlehrerin zusammen in der Klasse, kann beobachten, mir Notizen machen, etwas mithelfen. Doch das ist auch schon alles, was ich an Ausbildung bekomme. Für Seiteneinsteiger auf Vertretungsstellen gibt es nicht die berufsbegleitende Qualifikation, wie sie etwa für Festanstellungen vorgesehen ist. Bald bin ich allein mit 27 Kindern.

Der Sprung ins kalte Wasser fällt schwieriger aus als erwartet, und das mit der Strenge klappt auch noch nicht wirklich. Bin ich nur einen Moment nicht wachsam, fällt mir die Klasse auseinander: Ein Kind schnappt sich den Radiergummi seines Sitznachbarn, es gibt eine lautstarke Rangelei. Während ich schlichte, entstehen weitere „Brandherde“. An sämtlichen Tischen beginnt eine fröhliche Unterhaltung, alle legen Stifte und Arbeit erstmal nieder. Zwei notorische Schwatzbacken, die absichtlich getrennt sitzen, setzen sich unauffällig zusammen. Drei Kinder umringen mich, um ihre Sitznachbarn zu verpetzen, während hinten links eine Papierball-Schlacht entbrennt. Ich suche das Megafon, doch leider gibt es keins. Mit Mühe rufe ich zur Ruhe.

 Gabriele Möller, Journalistin und Lehrerin im Seiteneinstieg.

Gabriele Möller, Journalistin und Lehrerin im Seiteneinstieg.

Foto: Gabriele Möller

So geht das nicht weiter. Am nächsten Tag frage ich die Kinder: „Wer versteht etwas von Fußball?“ Sofort gehen die meisten Finger hoch. Ich frage weiter, was eine Gelbe Karte und was eine Rote Karte ist. Jedes Kind weiß es. „Genauso funktioniert es auch bei uns: Wer stört, bekommt die Gelbe Karte. Hilft das nicht, gibt’s eine Rote Karte, also eine Konsequenz“, sagte ich. Das System leuchtet den Kids ein. „Frau Möller, du musst dann aber auch grüne Karten vergeben, wenn wir etwas gut machen“, findet ein Junge. Ich finde das eigentlich auch, schließlich will ich nicht nur maßregeln, sondern vor allem das Prinzip der positiven Verstärkung nutzen. Ab dem nächsten Tag gibt es also auch „Grüne Karten“ – und wer drei davon hat, bekommt einmal hausaufgabenfrei.

Es funktioniert, allmählich läuft die Klasse rund. Jetzt, da ich mich durchsetzen kann, entsteht auch Raum für mehr Lockerheit im Unterricht. Die Sache fängt an, mir Spaß zu machen. Trotzdem bin ich mittags völlig erledigt. Ich habe inzwischen riesigen Respekt für Grundschullehrer, die diesen Job jahrzehntelang schaffen. Man darf über Stunden hinweg nicht eine Minute nachlassen. Am Nachmittag muss jeder Unterrichtstag der Woche Stunde für Stunde vorbereitet, müssten Tests und Arbeitsblätter erstellt werden. Ich bin unerfahren und verschätze mich oft mit dem Lernpensum. Bereite ich zu viel vor, schafft die Hälfte von der Klasse es nicht, ist es zu wenig, muss ich improvisieren.

Für mich gilt das Prinzip „Learning by doing“ auch im Umgang mit schwierigen Kindern. Da sind zum Beispiel die verhaltensauffälligen Schüler, im Fachjargon „Kinder mit sozial-emotionalem Förderbedarf“. Sie halten sich nicht an Regeln, sind aggressiv, benutzen Schimpfwörter, die ein Kind noch gar nicht kennen sollte, reagieren auf keine Aufforderung, stören die anderen Kinder massiv. Sie sprechen kaum auf die üblichen Maßnahmen – Gespräche mit dem Schulpsychologen, Elterngespräche, notfalls Ausschluss vom Unterricht – an. Und schon gar nicht auf gelbe oder rote Karten. Dass einige von ihnen bereits mitten in der Pubertät sind (weil sie ein- oder zweimal wiederholt haben), macht es nicht einfacher. Hier wäre ein Sonderpädagoge nötig, der zusätzlich zur Lehrkraft ständig im Raum ist.

Ähnlich ist es auch bei den Kindern, die Lernprobleme oder -behinderungen haben. Das sogenannte Gemeinsame Lernen auch dieser Kinder in Regelklassen (Inklusion) kann ebenfalls eine gute Idee sein. Aber es wäre auch zusätzlich eine sonderpädagogische Kraft im Klassenzimmer nötig. Ich selbst kann diesen Kindern jeweils nur wenige Minuten helfen, bevor ich mich – mit einem unguten Gefühl im Bauch – wieder um den Rest der Klasse kümmern muss. Doch an meiner Schule steht für jedes dieser Kinder nur wenige Stunden in der Woche eine Sonderpädagogin zur Verfügung. Dem Schulministerium zufolge sind in allen Schulformen 3200 Stellen von Sonderpädagogen unbesetzt.

Trotz aller Herausforderungen müssen aber auch sie erwähnt werden: die unzähligen schönen Augenblicke mit den Kindern, die überraschenden, lustigen, manchmal auch dramatischen Szenen eines Schulvormittags. Es gibt niemals Routine und nicht eine Sekunde Langeweile. Das Spannendste sind die Kinder selbst: ihre genaue Beobachtungsgabe, ihr Gerechtigkeitssinn, ihre Echtheit – und ihr sicheres Gefühl dafür, ob auch ihr Gegenüber authentisch ist. „Man gibt sich in diesem Beruf immer ganz. Es gibt hier keine Trennung zwischen der Rolle und der Person, die man wirklich ist“, sagt eine Kollegin.

Als ich mich an meinem letzten Tag verabschiede, hängen die Kinder wie eine Traube an mir. Es war eine schöne und intensive Zeit, auch wenn ich mir gewünscht hätte, vorher zumindest einen „Crash-Kurs im Lehrersein“ bekommen zu haben. „Die Seiteneinsteiger müssen gründlich vorbereitet werden, bevor sie in die Schulen kommen, und dann berufsbegleitend qualifiziert werden“, forderte jüngst auch Dorothea Schäfer, NRW-Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung Wissenschaft (GEW). Das sollte auch für befristete Vertretungsstellen gelten, denn auch sie laufen oft über lange Zeiträume, auch sie sind „richtige“ Lehrerstellen.

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