100. Geburtstag ohne Feier Dinner for one

Kleinenbroich · Charlotte Fuhrmann hat den Krieg erlebt und den Wiederaufbau. Sie hat gelernt, was es bedeutet, wenig zu haben und doch viel daraus zu machen. Heute ist sie 99 Jahre alt. Kommende Woche wird sie 100. Die Geburtstagsfeier muss wohl ausfallen – Corona-Krise.

 Charlotte Fuhrmann im Seniorenheim „Haus Tabita“.

Charlotte Fuhrmann im Seniorenheim „Haus Tabita“.

Foto: Gerdau

Es sollte Käsekuchen geben. Dabei mag Charlotte Fuhrmann Kuchen nicht so besonders: „Ich esse lieber ein Stück Wurst.“ Doch für den 22. April hätte es Kuchen gebraucht. „Man wird ja nur einmal hundert“, sagt sie.

Es sind seltsame Tage. Betriebe gehen zugrunde, weil die Kunden wegen der Corona-Krise ausbleiben. Die Menschen arbeiten zu Hause, im Garten, auf der Terrasse. Manche vereinsamen. Kontaktverbot. Ein hässliches Wort. Charlotte Fuhrmann wollte nur ihren Geburtstag feiern. Eine ihrer beiden Töchter hätte sie zu sich geholt. Ein paar Bekannte wären noch gekommen. Es hätte den Käsekuchen gegeben. Aber weil Bund und Länder Ausgangsbeschränkungen beschlossen haben, wird daraus wohl erst einmal nichts.

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Charlotte Fuhrmann lebt seit sechs Jahren im Seniorenheim „Haus Tabita“ in Kleinenbroich. Mit 99 Jahren ist sie die älteste Bewohnerin. Für Senioren- und Pflegeheime gelten besondere Richtlinien. Es gibt Besuchsverbote. Noch so ein hässliches Wort. Die Bewohner sind zwar offiziell nicht gefangen, aber ein kurzer Trip zu Bekannten ist auch nicht vorgesehen. Zu groß ist die Gefahr, dass jemand das neue Coronavirus ins Heim einschleppt. Die Folgen wären fatal.

„Der Kuckuck soll das holen“, sagt Charlotte Fuhrmann. Sie meint das Virus, die Situation, die Kontakt- und Besuchsverbote. Sie hätte sich nie ausgemalt, dass sie jemals in einem Seniorenheim leben würde, sagt sie. Und jetzt auch noch Risikogruppe. Ihr 100. Geburtstag fällt in die Zeit einer fortschreitenden Pandemie. In ihrem Geburtsjahr war es die Spanische Grippe, die noch in weiten Teilen der Welt wütete und Millionen Menschenleben forderte.

Geboren wird Charlotte Fuhrmann 1920 in Königshütte in Oberschlesien, damals noch Deutsches Reich. Der Vater kommt gerade zurück aus dem Krieg. Krank, gebrochen. Einige Zeit darf er nicht arbeiten. Doch daheim warten seine Frau und vier Töchter. Er muss sie versorgen und widersetzt sich dem Rat des Arztes. Die Familie besitzt einen kleinen Hof, wo sie eine Metzgerei betreibt.

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Foto: dpa/Oliver Berg

1922 wird Königshütte an Polen angegliedert. „Wir waren Deutsche, lebten aber plötzlich in Polen“, sagt Charlotte Fuhrmann. Der Vater stirbt 1928 mit 49 Jahren. Die Polen ließen sie anfangs in Ruhe. „Meine Mutter und zwei meiner Schwestern sprachen Polnisch“, sagt sie. Das half.

Mit 15 lernt sie in Königshütte ihren späteren Mann kennen. „Ein Guter“, sagt Charlotte Fuhrmann. Er ist Schlosser und arbeitet viel. Er ist wie sie Deutscher, lebt aber in Berlin. Es wird eine Beziehung aus der Ferne. Aus Deutschland kommen mit den Jahren beunruhigende Nachrichten. Charlotte Fuhrmann sieht den Krieg kommen.

 Die Jungen müssen für die polnische Verteidigung die Schützengräben ausheben und befestigen. Irgendwo in einem Waldgebiet hinter Kattowitz. Ein polnischer Soldat drückt ihr Schaufel, Säge und Beil in die Hand. Die Männer müssen die Bäume fällen, die Frauen die Äste entfernen. Mit dem Holz werden die Gräben verkleidet. „Wir waren jung und mussten deshalb alles mitmachen“, sagt Fuhrmann. Deutsch sprechen darf sie nicht. „Wir dachten, wir kommen nicht mehr nach Hause.“

Polen fällt 1939 binnen weniger Wochen. Die Kriegsjahre zehren an der Familie. Aber sie hält durch. „Recht und schlecht“, sagt Charlotte Fuhrmann. 1942 heiratet sie. Ihr Mann ist da gerade zu Besuch in Königshütte, das jetzt wieder zum Deutschen Reich gehört. Erst spät wird er eingezogen und nach Italien versetzt. Nach dem Krieg kommt er in britische Gefangenschaft. Die Fuhrmanns müssen als Deutsche ihren Hof aufgeben. Vor der Tür steht schon die polnische Familie, die das Haus übernehmen soll.

 Erinnerungen: Charlotte Fuhrmann mit dem Hofhund der Firma ihres Mannes, den beiden Töchtern bei der Kommunion und im Urlaub in Kroatien. Das Foto rechts oben zeigt die Töchter im Garten von Freunden.

Erinnerungen: Charlotte Fuhrmann mit dem Hofhund der Firma ihres Mannes, den beiden Töchtern bei der Kommunion und im Urlaub in Kroatien. Das Foto rechts oben zeigt die Töchter im Garten von Freunden.

Foto: FOTOS: PRIVAT | GRAFIK: FERL

Von den meisten Gräueltaten der Deutschen hört Charlotte Fuhrmann erst später. Ein Bekannter habe ihr von den Konzentrationslagern erzählt. Auschwitz liegt nur rund 40 Kilometer südlich von Königshütte. Sie habe das anfangs alles für Märchen gehalten, sagt sie.

1945 verlässt Charlotte Fuhrmann Polen. „Ich hatte da nichts zu suchen. Ich konnte kein Polnisch, ich wurde ja nur deutsch erzogen“, sagt sie. Mit einer befreundeten Familie reist sie in einem Güterzug über Prag zunächst nach München, kurz danach zieht sie nach Aschaffenburg. Ihren deutschen Pass versteckt sie. Sie reist als Polin ein. Später meldet sie sich im Einwohnermeldeamt um.

In einer neu eröffneten Kaufhalle bekommt sie eine Stelle. In einer Zeit, in der die Wirtschaft darniederliegt. Sie habe sich so unendlich gefreut, sagt Charlotte Fuhrmann. Eine Wirtin vermietet ihr ein kleines Zimmer ohne Möbel. „Ich weiß nicht mehr, womit ich mich zugedeckt habe, aber ich war glücklich.“ Drei Jahre später, im Juni 1948, klopft es an der Tür.

Die Wirtin meldet einen Mann an. Charlotte Fuhrmann ist verwundert. Wer sollte sie denn besuchen? Es ist nicht irgendein Mann, es ist ihr Mann. „Ah du bist das“, habe sie gesagt. Charlotte Fuhrmann erinnert sich genau an die Zeit. Wenige Tage zuvor ist im Zuge der Währungsreform die deutsche Mark eingeführt worden. Lange Zeit wusste Fuhrmann nicht, ob ihr Mann überhaupt noch lebte. Irgendwann hatte sie an seine alte Firma geschrieben. Man hatte ihr gesagt, dass man es nicht genau wisse, doch vermutlich sei er noch am Leben. Und da steht er nun.

„Man hatte sich verändert, doch wir kamen wieder zusammen.“ Sie ziehen nach Neuss, weil die Firma ihres Mannes dorthin gewechselt war. Sie findet den Dialekt der Menschen merkwürdig: Plattdeutsch. Ihr neues Zuhause ist eine winzige Zweizimmerwohnung. „Es war nicht schön, doch ich habe alles mitgemacht“, sagt Charlotte Fuhrmann.

Viel verdienen sie in dieser Zeit nicht. Doch Charlotte Fuhrmann hat gelernt, mit Geld umzugehen. Ihre Mutter hatte ihr das Rechnen beigebracht. „Sie war streng. Ich war oft sauer auf sie.“ Heute weiß sie, dass die Erziehung der Mutter ihr das Leben auch erleichtert hat. Sie musste lernen, genügsam zu sein. Schließlich war sie die vierte Tochter. Ihre Schwestern hatten den Vorzug. Sie war die Jüngste, doch wurde die Älteste.

Dabei schont sich Charlotte Fuhrmann nicht. In Neuss arbeitet sie in einer Kaffeerösterei, um die Haushaltskasse aufzubessern. Sie schleppt Säcke. Monatelang. Und dabei mag sie gar keinen Kaffee. „Immer, wenn ich meinem Mann morgens den Kaffee gemacht habe, wurde mir schlecht.“

Die erste Tochter wird geboren. Einige Jahre später meldet sich die zweite an. Heute sind sie 68 und 62 Jahre alt. Der Ehemann stirbt mit 59 Jahren. Da ist Charlotte Fuhrmann gerade 51. „Ich habe ihm immer gesagt, arbeite nicht so viel, doch er wollte ja nicht hören.“ Es kommt der erste Herzinfarkt. Dann der zweite. Es folgt eine Kur. Dann der dritte Herzinfarkt. Plötzlich ist sie mit den Kindern allein.

Charlotte Fuhrmann bleibt mit den beiden Töchtern zunächst in Neuss. Sie arbeitet im Büro einer Firma, die Metalle aufwertet. Das habe ihr viel Spaß gemacht, sagt sie. Einen zweiten Mann gibt es nicht. „Ich wollte keinen mehr. Ich konnte immer gut allein sein.“ Das kann sie noch immer. Die Spieleabende im Seniorenheim findet sie blöd. Fast 100 Jahre sei sie alt und solle plötzlich Kinderspiele machen. Sie gehe dann lieber auf ihr Zimmer. Charlotte Fuhrmann schaut viel fern. Am liebsten Krimis. Sie vermisst die schönen Sängerinnen, die früher viel im Fernsehen gezeigt wurden. So was gibt es ja nicht mehr. „Das Fernsehen heutzutage ist für junge Menschen“, sagt sie.

Junge Menschen gibt es viele um sie herum. Das ist nun mal so, wenn man fast 100 Jahre alt ist. Die Wenigsten erreichen so viele Lebenstage. Mit 94 Jahren lässt sich Charlotte Fuhrmann die Galle herausnehmen. Das dumme Ding hatte zu viel Ärger gemacht. Vollnarkosen bergen im Alter Risiken. Es droht das Delir. Doch Charlotte Fuhrmann übersteht den Eingriff ohne Probleme. Sie übersteht eigentlich alles. Nur wie gelingt so ein langes Leben? Sie trinkt keinen Alkohol und keinen Kaffee. Sie bevorzugt Wurst statt Kuchen und sie isst gerne Kartoffelpüree mit Spinat. Sie liebt Musik, aber keine Symphonien, „da schläft man bei ein“. Das Internet kennt sie, benutzt es aber nicht. Ist es das? Vermutlich nicht.

Lebensweisheiten gibt es von Charlotte Fuhrmann nicht. Es hat nichts damit zu tun, dass sie nicht genug erlebt hätte. Sie ist einfach der Meinung, dass sie kein Gradmesser für ein erfülltes, langes Leben ist. Sie spricht die Frage nicht aus, doch sie steht im Raum: Wer bin ich schon?

Am 22. April also wird sie 100 Jahre alt sein. Noch mal würde sie das alles nicht durchmachen wollen, sagt sie. Enkel hat sie keine. Sie hat nur noch ihre beiden Töchter und einige Bekannte. Alle anderen sind tot. „Und ich doofes Schaf lebe noch. Manchmal frage ich mich, wo die Jahre geblieben sind.“

Angst vor dem Virus? Nein, die hat sie nicht. „Wenn es kommt, kommt es halt.“ Sie versteht aber, dass es Ausgangsbeschränkungen geben muss. Nur ist der Zeitpunkt so ungünstig. Man wird doch nur einmal hundert.

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