Duisburg Schriftbänder der Zeitgeschichte

Duisburg · Der Konzeptkünstler Jochen Gerz will die gesamte Glasfassade des Duisburger Lehmbruck-Museums mit seinen Gedanken beschriften.

Noch befindet sich Jochen Gerz in der Experimentierphase. Die roten Buchstaben, die er an einem Teil der sieben Meter hohen Glasfassade des Duisburger Wilhelm-Lehmbruck-Museums angebracht hat, vermitteln aber schon einen Eindruck vom künftigen Ergebnis. Spätestens am 1. September werden alle vom Boden bis zum Dach reichenden Glasflächen an drei Seiten des Museums von Schrift überzogen sein. Wer sie lesen will, muss das Bauwerk auf einem 100 Meter langen Steg vier Meter über dem Grund umwandern.

Der Lohn der Mühe besteht in einer Zeitreise von 1940 bis in unsere Tage. Denn der Text, den der 78-Jährige für Duisburg verfasst hat, reflektiert sowohl sein eigenes Leben als auch die Zeitgeschichte, die er durchmessen hat. Beide Teile greifen ineinander, und "Pop-ups" werden den Besuchern die Möglichkeit bieten, weitere Texte und Fotos aus einem digitalen Archiv aufzurufen - eine kleine Enzyklopädie.

Jochen Gerz, einer der bedeutendsten deutschen Künstler der Gegenwart, hat in den zurückliegenden 18 Jahren kaum noch in Museen und Galerien ausgestellt. Stattdessen ging er auf die Straße, in Städte und Vorstädte, diese "schönsten Galerien der Erde", wie er sagt. Die Betrachter waren aufgefordert mitzumachen. Auch in Duisburg werden die Besucher nicht umhinkönnen, mehr zu tun, als die Augen zu öffnen. Denn Gerz' Texte sind anspruchsvoll, und sie setzen auf die Lust am Weiterdenken.

Die Themen von Gerz, der 1976 unter anderem mit Joseph Beuys auf der Biennale von Venedig Deutschland vertrat und an den Documenta-Ausstellungen 1977 und 1987 teilnahm, sind durch die Jahrzehnte im Kern dieselben geblieben: der Anspruch der westlichen Kultur nach Auschwitz, der Zweifel an der Kunst, aber auch eine zunehmende Bewunderung der Art und Weise, wie Deutschland sich seiner mörderischen Vergangenheit stellt. Seit den 60er Jahren bis 2007 beobachtete er das aus der Distanz seines Wohnortes Paris, seitdem von Irland aus. Aus dem Text, mit dem er das Lehmbruck-Museum beklebt, spricht seine "Hochachtung vor der deutschen Gesellschaft, die aus dem Krieg gekommen ist - einer Gesellschaft, die auf die Gegenwart blicken und sich zugleich kritisieren lassen kann".

"Was wir heute brauchen", so betont Gerz, "ist ein intensiver Blick von außen - sonst fehlt uns nichts." Zu diesem Blick, einer Selbstbefragung, will er mit seiner Installation einladen. Es sei, so erläutert er, "auch ein Blick auf das, was einem rätselhaft ist".

Eines seiner Themen ist die Migration. Gerz hat für die Dauer der Ausstellung 24 aus Krisenregionen Geflohene gebeten, Besuchern ihren Weg aus dem Krieg in eine bessere Welt zu beschreiben. "Ich kann mich mit nichts so sehr identifizieren wie mit Migranten", so formuliert Gerz seine Begeisterung.

Unverkennbar steht er auf der Seite derer, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. So bewundert er auch den 1964 entstandenen gläsernen Bau des Lehmbruck-Museums: "In einer Gegend, die durch den Krieg extrem geplättet war, ist da ein Bau entstanden, von dem jeder wusste, dass sein Material zerbrechlich ist." Dem Künstler Gerz gefällt solch utopisches Schaffen. Er mag das Wort "trotzdem".

So hat er immer wieder Projekte begonnen, für die er anfangs kaum qualifiziert zu sein schien. "Ich mache nur Sachen, die ich nicht kann", stellt er lakonisch fest. Damit hat er viel Aufsehen erregt. In der Installation "Exit - Materialien zum Dachau-Projekt" wies er auf Parallelen zwischen der Sprache des Konzentrationslagers und jener des Museums hin: "Exit" markierte einst die Türen, die unausweichlich in den Tod führten, und später den Ausgang von Museen. Zum Kulturhauptstadt-Jahr "Ruhr 2010" rief Gerz in der Nähe des Bochumer Rathauses einen "Platz des europäischen Versprechens" aus. Die Teilnehmer waren eingeladen, sich und Europa ein persönliches Versprechen zu geben, das unveröffentlicht blieb.

Nicht immer fand Jochen Gerz bei seinen ambitionierten Projekten Zustimmung. Allerdings will er seit je auch keine Antworten geben. "Der Mensch ist begabt, Fragen zu stellen", sagt er, "und Fragen sind nun einmal widerständiger als Antworten."

(B.M.)
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