CD zeigt 9/11-Angriff "Ein abscheuliches Cover"

New York (RP). Das Cover einer CD des Kronos-Quartetts mit einer Einspielung von Steve Reichs Komposition "WTC 9/11" hat in den USA vor dem offiziellen Erscheinen des Albums eine heftige Kontroverse ausgelöst. Kritiker halten es für eine Verhöhnung der Opfer und eine PR-Verkaufsstrategie.

Der große US-amerikanische Komponist Steve Reich steht nicht im Ruf eines Rattenfängers. In seinen Prinzipien und künstlerischen Leitlinien ist der 74-jährige Musiker, der als Pionier der Minimal Music gilt, rigoros, aufrecht und unempfänglich für die Einflüsterungen des Kommerzes; ein Artist auf der PR-Klaviatur war er nie. Doch derzeit muss sich Reich mit überaus heftigen Attacken auseinandersetzen.

Das Cover einer CD des weltberühmten Kronos-Quartetts mit einer Einspielung von Steve Reichs neuer Streichquartett-Komposition "WTC 9/11" macht derzeit die Runde und hat in den USA schon vor dem offiziellen Erscheinen eine wüste Kontroverse ausgelöst. Das Titelbild des Albums, das am 6. September in den Handel kommen soll, zeigt in düster-verfremdeten, ockergelben Sepia-Tönen, wie ein Flugzeug auf den zweiten, noch unversehrten Turm des brennenden World Trade Center zusteuert. Das Originalfoto stammt vom Fotografen Masatomo Kuriya.

Es ist nicht der Realismus eines historischen Dokuments (das man als Motiv schon zahllose Male gesehen hat), der viele Leute empört. Es ist vielmehr ihr Verdacht, hier werde eine Ästhetisierung des Terrors betrieben; andere schimpfen, Reich verdiene seine Tantiemen an der Platte ausgerechnet mit den Toten und den Traumata ihrer Hinterbliebenen. Im Blog des "Wall Street Journal" schreibt ein Kommentator, das Cover sei "abscheulich" und verdiene einen Preis für das schlechteste Titelbild; weitere nennen es verachtenswert, grobschlächtig, ausbeuterisch.

Scharfe Ablehnung im Netz

Diesen Tonfall direkter Ablehnung intonieren viele Blogger auch auf der Homepage der Plattenfirma Nonesuch. Ein anderer meint: "Das Cover ist aus gestaltungstechnischer Sicht wirklich grässlich. Reich hätte wunderbar auf Roland Fischers Werk ,World Trade Center' zurückgreifen können, so wie man es beispielsweise bei Clément Chérouxs Diplopie-Buch über die Bildpolitik des 11. Septembers soeben findet." Ein anderer Kommentator findet die Verwendung bei Reich in diesem Zusammenhang "deutlich legitimer, als wenn Led Zeppelin das Unglück von Lakehurst auf dem Cover ihres Debüts verbraten". Eine andere Stimme schallt versöhnlich: "Das Cover zeigt exakt den Inhalt der CD — genauer können Bild, Stoff und Musik nicht ineinander greifen." Ein weiterer Blogger argwöhnt zu Reichs Gunsten, das Cover sei deutlich banaler, als es die Musik je sein könne. Sie habe diesen "Schund von Bild" nicht verdient.

Erstmals wird in der Welt der klassischen Musik die Diskussion um ein Cover derart zum öffentlichen Vorgang. Das liegt nicht nur daran, dass das Internet als Mittel der Meinungsverbreitung deutlich schneller ist als der klassische Leserbrief, von dem die Welt oft auch nichts erfährt. Es liegt auch an der Aktualität der Musik, mit der sich die wache Gesellschaft auseinandersetzen muss. Früher beschrieben Komponisten ihre Zeit deutlich über historische Umwege: Georg Friedrich Händel meinte das aktuelle England, als er zur Metaphorik der griechischen Mythologie griff; Richard Wagner meinte Bismarck und die Gründerzeit, wählte aber die Schleife über nordische Sagen.

Musiker von heute empfinden keine Tabus mehr — Luigi Nono komponierte ebenso hochpolitische Musik wie der jüngere Hans Werner Henze. Aber dass die aktuelle Weltgeschichte unmittelbar aufs Konzertpodium gelangt, ist neu. Was den Anschlag aufs World Trade Center anlangt: Hier war Reich sein Kollege John Adams vorausgegangen, der ein eher meditatives, stilles Oratorium unter dem Titel "On the Transmigration of Souls" geschrieben hat.

"WTC 9/11" ist das dritte Werk, das Steve Reich dem Kronos-Quartett widmete. Es ist für drei Streichquartette konzipiert, wobei zwei vorab auf Band aufgenommen wurden; ein Verfahren, das man aus vielen Reich-Kompositionen kennt. Ebenso hat Reich Tonaufnahmen des Flugverkehrs und der Feuerwehr während der Anschläge verarbeitet. Ähnlich hat er schon in seiner Streichquartett-Komposition "Different Trains" (1988) operiert, die unter anderem Zugfahrten in die Konzentrationslager mit Musik illustriert und Wortfetzen aus Interviews mit Holocaust-Überlebenden einblendet. Damals blieb eine Debatte aus — Reich ist selbst Spross einer jüdischen Familie.

In einem Statement betont Reich, die Ereignisse vom 11. September 2001 seien für ihn alles andere als abstrakte, rein historische Materie. Reich weilte damals in Vermont, besaß aber in unmittelbarer Nähe der WTC-Türme — vier Häuserblöcke entfernt — ein Apartment. Während der Attacke hielt sich dort die Familie seines Sohnes auf. "Für uns", sagt Reich jetzt, "war das kein Medienevent. Über sechs Stunden haben wir ununterbrochen telefoniert, so lange hielt die Verbindung zum Glück. Wohnungsnachbarn haben meine Familie dann Richtung Norden gefahren."

Diese authentische Verbindung des Komponisten zum 11. September 2011 hielt einen Leserbriefautor in der "New York Times" nicht davon ab, ein vernichtendes Urteil zu fällen: "Es ist das widerlichste Cover eines Klassikalbums, das ich je gesehen habe."

(RP)
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