Vor 200 Jahren erstmals gesungen Wie „Stille Nacht“ zum weihnachtlichen Welthit wurde

Oberndorf · Vor 200 Jahren wurde im österreichischen Oberndorf das vermutlich berühmteste Weihnachtslied erstmals gesungen: „Stille Nacht“.

 Ein Teil der Partitur des „Stille Nacht“-Liedes.

Ein Teil der Partitur des „Stille Nacht“-Liedes.

Foto: SalzburgerLand Tourismus

Geschrieben hatte er das Gedicht ja schon 1816. Noch in Mariapfarr also, sehr hoch oben in den sogenannten Lungauer Alpen. 24 Jahre alt ist der „Hülfspriester“ Joseph Mohr damals gewesen, und Mariapfarr war die erste Dienststelle nach seiner Weihe. Zwei Jahre später arbeitet er in Oberndorf. Warum er erst dort das Gedicht aus der Schublade zieht und beim Aushilfsorganisten Franz Xaver Gruber anfragt, ob der ihm dazu nicht eine hübsche Melodie schreiben könne – für zwei Solostimmen samt Chor und eine Gitarren-Begleitung –, bleibt das große Geheimnis bis heute. Und es bietet natürlich Stoff für allerlei Legenden. Die vielleicht berühmteste geht so: Eine Maus hätte in diesem eiskalten und futterarmen Winter dem Blasebalg der Kirchenorgel derart zugesetzt, dass an ein ordentliches Spielen kein Denken gewesen sei, worauf der arme Hilfspfarrer am Nachmittag zu Stift und Gitarre gegriffen und das Lied noch am selben Abend zur Aufführung gebracht habe. Klingt schön, stimmt aber nicht. Gesichert ist lediglich, dass „Stille Nacht“, unser berühmtestes Weihnachtslied, vor 200 Jahren erstmals gesungen wurde; in der Kirche Sankt Nicola zu Oberndorf.

Eine „einfache Composition“ sei das gewesen, wird Gruber fast 40 Jahre später schreiben, welche aber in der heiligen Nacht nach seiner Erinnerung „mit allem Beifall produziert wurde“. Ohne Gruber wüssten wir beinahe nichts über die Erstaufführung, doch ohne den Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. wüssten wir nichts von Gruber. Der Fürst hatte sich über seine Königliche Hofmusikkapelle auf die Suche nach den Urhebern dieses wunderlichen Liedes begeben und war 1854 bei Gruber gelandet. Bis dahin vermutete man Johann Michael Haydn – einen Bruder Joseph Haydns – als Urheber. Gruber nun gab verlässliche Auskunft, in seiner kleinen Klarstellung mit dem feinen Titel „Authentische Veranlassung zur Composition des Weihnachtsliedes ,Stille Nacht, heilige Nacht!’“ Da ist das Lied schon ein formidabler Erfolg, den Joseph Mohr aber nicht mehr erlebt. Er war bereits 1848 gestorben.

Vielleicht ist gerade diese Geschichte so typisch für das Lied: Alles beginnt klein und sehr am Rande vermeintlich großer Ereignisse. Und selbst die Urheber sehen sich nicht als wichtige Schöpfer an und tauchen darum auch schnell wieder ab in die Anonymität. Genauso einfach und schlicht ist die Frömmigkeit und Heiligkeit der Stille, die am Tag der Geburt Christi besungen wird. Der glänzende Pomp ist anderswo. Nur die überschaubare, stille Gemeinde der Uraufführung ist vor 200 Jahren in St. Nicola an der Salzach beisammen.

Natürlich verklärt man leicht und schnell die Umstände der Liedentstehung. Tatsächlich war die Zeit damals hart, der Winter ungewöhnlich kalt und die Ernährungslage nach miesen Ernten wenigstens schwierig. Vielleicht ist das Lied auch ein Trost- und Hoffnungslied für eine Gemeinde gewesen, in der sich Mohr offenbar pudelwohl gefühlt hat. Für manche auch zu wohl, wie es ein Schreiben seines Vorgesetzten ans Bistum vermuten lässt. Darin wird Mohr nachgesagt, dass „er spielte und trinket nächtlicher Weile, er singet mit und unter andern oft nicht erbauliche Lieder, er schwezet auch mit Personen anderen Geschlechts, benimmt sich wenigstens nicht geistlich...“

Wie aus Oberndorf das Lied seinen Weg in die Welt antritt, ist nicht mehr nachzuzeichnen. Es müssen viele Pfade gewesen sein, nicht nur katholische und später nicht einmal christliche. In seinen Anfängen wird dabei das 1844 in Hamburg aufgelegte evangelische Liederheft eine Rolle gespielt haben. In diesem Büchlein gelangt „Stille Nacht“ nämlich über die evangelische Missionsarbeit erst einmal in die weite Welt hinaus und kehrt kurioserweise über diesen Umweg zurück nach Österreich und Deutschland. Ein Welthit wird es dann im 20. Jahrhundert, und natürlich muss an erster Stelle Bing Crosby genannt werden, dessen Aufnahme von „Silent Night“ 1935 sich bis heute über dreißig Millionen Mal verkauft hat.

Im Grunde gibt es inzwischen kaum einen Musiker, der sich nicht an Mohrs Versen und Grubers Noten probiert hat. Auf Youtube beläuft sich die Zahl der Einträge zu „Stille Nacht“ auf über 14 Millionen, darunter auch ein Ghetto-Hip-Hop-Remix. Sogar die Toten Hosen haben es gesungen, nicht sehr still, wenig heilig und derart polternd einfallslos, dass man zur Überzeugung kommt, dass nicht jede Adaption ein Zeichen wohlmeinender Überlieferung sein muss.

Was so populär ist, zieht Menschen, die meinungsbildend sein wollen, magisch an. Mit der christlichen Botschaft hat das nichts mehr zu tun. Ein Lied wird ausgeschlachtet und zum Vehikel für alle denkbaren und leider auch undenkbaren Ideen. In der Nazi-Zeit wird in neu getexteten Versionen die deutsche Familie kurzerhand zur Heiligen Familie erhoben. Mit gleicher Melodie ist es dann Diktator Adolf Hitler, der – wenn alles schläft – einsam wacht: „für Deutschlands Geschick, führt uns zu Größe, zu Ruhm und zum Glück“ etc.

Noch im Kaiserreich hatten die Sozialdemoraten mit dem Lied die sozialen Missstände anzuprangern versucht in ihrem „Arbeiter Stille Nacht“. Und in der Weimarer Republik dichteten die Kommunisten: „Stille Nacht, heilige Nacht, / Im Palast – Lichterpracht, / Milch und Brot in reichlicher Füll’ / Bei der Armut da hungert man still, / Wann kommt der Retter herbei?“

Nicht weniger schaurig sind die meisten Verfilmungen, die sich dann der vermeintlichen Entstehungsgeschichte widmen, jedenfalls so, wie man es sich so denkt und am allerliebsten vorstellt. „Das unsterbliche Lied“, 1934 in den Schweizer Bergen gedreht, wird zu einem Propagandafilm, der zeigen soll, welche Kulturgüter aus deutschem Boden sprießen. Besonderer Clou dieses Films: Felix Gruber ist dort in der Rolle seines Großvaters zu erleben, des Komponisten Franz Xaver Gruber. Erfolgreicher sind die Amerikaner, die „The Legend of Silent Night“ 1967 drehen, diesmal mit James Mason als Gruber. Eine weitere US-amerikanische Stille-Nacht-Produktion gelangt 2012 zu Ruhm und Ehre, eine andere kommt über einen Skandal nicht hinaus: „Silent Night (Magdalene)“ mit Nastassja Kinski als Dorfhure präsentiert eine Freizügigkeit, die 1988 schon im Vorfeld reichlich Erregungsstoff liefert. Der Film landet bald in den Videotheken und wird im deutschsprachigen Raum bis heute nicht gezeigt.

Das Lied, das in die Welt getreten ist, musste sich der Welt aussetzen. Die hat „Stille Nacht“ verändert, auch verbogen, imitiert und pervertiert. Und doch hat sich das Lied auf seine stille Weise widerständig gezeigt. Der Beweis wird heute Abend wieder erbracht, wenn am Ende von ungezählten Gottesdiensten von der stillen und heiligen Nacht gesungen wird. Von einer Gemeinde, die nur an diesem Abend zusammenkommt und die längst nicht mehr so vorbehaltlos an das glaubt, was die Kirchen verkünden. Doch in diesem Lied zur Geburt Christi, zu dieser Ungeheuerlichkeit, dass Gott ganz und gar Mensch wird, stimmen alle miteinander ein – und viele gerührt.

Vielleicht ist es sogar gut, dass St. Nicola in Oberndorf nicht mehr steht und keine „Pilgerstätte“ werden konnte. Nach mehreren Hochwasserkatastrophen war die Kirche derart beschädigt, dass man 1911 mit ihrem Abriss begann. Heute steht dort nur eine Kapelle, eine Stille-Nacht-Kapelle. Für eine kleine Gemeinde. Am Ufer der Salzach. Den Gefahren der Welt ausgesetzt.

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