Weltliteratur im Urlaub Kafkas „Schloss“ in der Sandburg

Taugt der Pessimist Kafka zur Unterhaltung am Strand? Aber ja. Das Werk des weltberühmten Autors hat viele komische Seiten.

 Franz Kafka im Urlaub (v.l.): mit Otto Brod (dem jüngeren Bruder seines Schriftsteller-Freundes Max Brod) 1909 in Castel Toblino (bei Trient), mit seiner Schwester Ottla (M.) 1917 in Sirem (Westböhmen) sowie mit dem Schriftsteller und Arzt Ernst Weiß 1914 im dänischen Ostseebad Marielyst.

Franz Kafka im Urlaub (v.l.): mit Otto Brod (dem jüngeren Bruder seines Schriftsteller-Freundes Max Brod) 1909 in Castel Toblino (bei Trient), mit seiner Schwester Ottla (M.) 1917 in Sirem (Westböhmen) sowie mit dem Schriftsteller und Arzt Ernst Weiß 1914 im dänischen Ostseebad Marielyst.

Foto: RP/FOTOS: ISTOCK. RP | GRAFIK: C. SCHNETTLER

„Du kennst das Schloss nicht.“

Diesen Satz am Anfang dieses berühmten Romans sagt der Wirt zum Landvermesser K., und damit hat sich die Zahl der Unbekannten bereits auf zwei erhöht. Wir wissen nichts und werden auch nichts weiter erfahren von dem seltsam fernen, uneinsehbaren Gebäude und jenem Mann, den der Schlossherr, Graf Westwest, engagierte, um ihn dann aber gar nicht in Anspruch zu nehmen, sondern in Wartehaltung verharren zu lassen. Den K. macht dieser Zustand kirre, aber nur ein bisschen, denn sein Begehren, vom Schloss in Dienst genommen zu werden, ist übermächtig.

So etwas wie Kafkas „Schloss“, dachten wir lange, liest man im November, wenn nebenbei ein Pinot Noir sein Bukett entfaltet. Dann beginnt die Stille der Nacht diesen Kafka-Nächten im Schnee zu ähneln, in denen der Landvermesser sein Schicksal bedenkt, das vom ersten Moment an rettungslos mit dem Schloss verknüpft scheint. Er nähert sich ihm, kommt aber nie an.

„Das Schloss“ von Kafka (1883–1924) ist eine Sisyphos-Variante, und wie dem Mythos vom Sisyphos wurde auch dem „Schloss“ allerhand angedichtet. Es sei eine Parabel über Diktaturen, die das Innerste ihrer Macht zu verbergen wissen und zugleich über ein abgefeimtes System von Sekretären, Zuträgern, Spitzeln verfügen. Ein psychologisches Meisterwerk über den Verlust der Identität und über den Sog, den sinistre Mächte ausüben. Ein Lehrstück über eine irrwitzige Bürokratie. Ein Vexierspiel über Todessehnsucht. Weist nicht der Name Westwest auf das Weltende hin, das hinter dem Ende der Welt lag, dem Finistère im Westen der Bretagne?

Natürlich bleibt das „Schloss“ weiterhin eine treffliche Novemberlektüre für die andächtige Kafka-Gemeinde, aber es spricht einiges dafür, dass sich dieses unvollendete, spiralförmige Meisterwerk, das gar kein Ende benötigt, auch in der Sandburg auf den Balearen konsumieren lässt. Man muss sich freilich daran gewöhnen, dass Kafka gern in sehr langen Absätzen schreibt, und wenn man gleichzeitig Kinder beaufsichtigen muss, die mit der Gummimatratze aufs pipiwarme Meer paddeln wollen, wird es schwierig, literarisch am Ball zu bleiben. Aber man gewöhnt sich daran, wie sich auch K. an alles gewöhnt, was ihm an Heimsuchungen aufgenötigt wird. Er löffelt die Suppe halt aus; zwischendurch sagt er ja mal, „dass mich nur Enttäuschungen erwarten und dass ich eine nach der anderen werde durchkosten müssen bis zum letzten Bodensatz.“

Wer diesen sehr bizarren Verweilstatus des K. bei Licht betrachtet, entdeckt alle Vorzüge eines komischen Romans. Auf wunderliche Weise wird da einer hingehalten, oder andersherum: Kafka hält seinem K. das Schloss vor die Nase wie das Herrchen dem Hund die Wurst. Das Komische bei Kafka ist nichts für die Schenkelklopfer, sondern für alle, die auch jüdische Witze lieben. Wie sagte mal Walter Benjamin über Kafka-Leser: „Dem würde der Schlüssel zu Kafka in die Hände fallen, der der jüdischen Theologie ihre komischen Seiten abgewönne.“

Jedenfalls geht‘s da wie dort um die Vergeblichkeit, um die Pirouetten, einer höheren Instanz nahezukommen. Kafkas dramaturgischer Kniff ähnelt jenem Korkenzieher, der sich tief einbohrt, aber nichts aus dem Flaschenhals herausbefördert. Alles dreht sich dumm, doch lässt Kafka den K. Hoffnung schöpfen, ein ums andere Mal, das hat etwas Sardonisches, Boshaftes, Vernichtendes, doch ist es auch lustig.

Der Roman ist eine Scharade über zwei Endpunkte, das Schloss und den Landvermesser, wobei sich das Schloss allmählich zu einem atmenden, saugenden, physischen Gebilde auswächst, scheinbar selbständig denkend, mit sprunghaften Gedanken, ausweichend, dann wieder lockend. Möglicherweise wurde das Schloss auch einzig für den Landvermesser gebaut, und mit seinem Tod zerfällt es zu Schutt und Asche – als Querverweis zu den existentiellen Aspekten in „Vor dem Gesetz“.

Seinen Kafka zu lesen ist unendlich spannend, doch auch erheiternd, und wieder fällt einem jenes großartige Buch von Astrid Dehe und Achim Engstler ein, die unter dem Titel „Kafkas komische Seiten“ an das Absurde, schallend Lachhafte bei diesem Autor erinnern. Auch daran, dass Kafka bei Lesungen etwa der „Verwandlung“ selbst als Erster ins Giggeln geriet, und zwar über jene Sätze, die andere als besonders raunend empfanden. Tatsächlich war der Autor ja nicht nur Schmerzensmann, sondern auch Kindskopf, ein Verstiegener, hochkomisch Verklemmter, aus dem es zuweilen herausschoss wie aus einer Fontäne. So gibt es in seinen Aufzeichnungen eine vierseitige Beschreibung eines peinlichen, nicht enden wollenden Lachanfalls, den Kafka bei einer Unterredung mit seinem Chef erlitt, dem Präsidenten der Arbeiterunfallversicherung.

„Du kennst das Schloss nicht“, sagt also der Wirt zu K.. Wenn man das Buch erneut liest, nun aber am Strand, bleibt man wie K. immer noch abgewiesen zurück, doch man hat sich auf dem Weg in die Ohnmacht prächtig amüsiert.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort