Interview mit Pater Anselm Grün „Im Staunen bin ich ganz bei mir“

Düsseldorf · Der Benediktinerpater hat ein neues Buch übers einfache Leben geschrieben: Darin geht es allein um das Wunderbare unseres Alltags.

Pater Amseln Grün im Kloster Münsterschwarzach (Archivbild).

Foto: Verlag/Daniel Biskup

Wahrscheinlich ist er einer der populärsten, auf jeden Fall aber einer der publizistisch erfolgreichsten Mönche in Deutschland: Mehr als 300 Bücher hat der Benediktinerpater Anselm Grün schon veröffentlicht, die weit über den deutschen Sprachraum hinaus auf Interesse stoßen. Also wurden seine Bücher bislang in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Jetzt hat der 73-jährige Mönch ein Buch nur über das „Staunen“ geschrieben, das im Grunde eine spirituelle Entdeckungsreise ist. Weil für Pater Anselm Grün viele Wunder nicht im Himmelreich warten, sondern geradewegs im Alltag zu finden sind. Die Betrachtung des Naheliegenden ist für ihn ein wichtiger Teil des sogenannten einfachen Lebens, über das er monatliche Briefe verfasst (www.einfachlebenbrief.de).

Ist das Staunen für Sie Meditation, ausgehend von der Bedeutung des Staunens – das Starren und Innehalten?

Grün Das Staunen ist der Anfang aller Philosophie. Ich staune, also denke ich nach. Das heißt: Ich bin offen für das Wunderbare und das Besondere? Das Staunen wird dann zu einer Einladung, darüber nachzudenken und achtsam damit umzugehen. Staunen ist für mich die Bedingung, dass etwas wichtig ist.

Was ist der Unterschied zwischen staunen und wundern?

Grün Das Wundern ist mehr eine Frage – also: Warum ist dieses oder jenes so? Aber das Bewundern kommt dann dem Staunen schon sehr nahe.

Verlieren wir mit zunehmendem Alter die Fähigkeit oder auch die Bereitschaft, zu staunen? Kindern ist das Staunen ja geradezu ins Gesicht geschrieben.

Grün Kinder sind eben noch viel offener für alles Neue. Und ein bisschen sollten wir uns von dem staunenden Kind in uns bewahren, sonst werden wir einfach nur routiniert Lebende. Dagegen hält es uns lebendig, wenn wir über das Schöne und das Geheimnis wieder staunen können.

Was hat Staunen mit Glauben zu tun? Oder anders gefragt: Ruht im Staunen nicht immer auch eine gute Portion Unglauben?

Grün Ja; das hängt zusammen mit einer Einstellung nach dem Motto: Ich kann’s einfach nicht glauben, dass es so und so ist. Aber andererseits sind wir im Staunen auch offen für das Geheimnis, auch das kleine, erlebbare Geheimnis. Etwa, dass Gott uns jetzt die Stunde der Ruhe geschenkt hat oder diesen wunderbaren Sonnenuntergang. Indem wir staunen, wächst auch der Glaube.

Ist das Staunen denn immer etwas Schönes?

Grün Was mich fasziniert, kann mich auch manchmal erschrecken, das stimmt. In diesem Betroffensein steckt eine tiefe Erfahrung.

Und was hat Staunen mit Glück zu tun?

Grün Im Staunen bin ich zumindest ganz bei mir und im Einklang mit mir. Glück hat ja auch etwas damit zu tun, das ich ganz gegenwärtig bin. Staunen bedeutet auch, dass ich mich für etwas Größeres öffne. Dieses Glück ist dann kein Kreisen um sich selbst, sondern die Erfahrung, vom Geheimnis berührt zu werden, von der Liebe zu Gott oder zu einem Menschen.

Sie staunen aber auch über sich selbst.

Grün Man soll auch immer auf sich selbst achten. Was spüre ich, was sind meine Gefühle? Wenn ich achtsamer mit mir selber bin, bin ich einfach auch achtsamer mit den Menschen. Achtsam auf sich selbst zu sein, heißt dann auch, darauf zu achten, was Gott mir sagt.

Diese Achtsamkeit beziehen Sie ganz konkret auch auf körperliche Erfahrungen; beginnend mit dem Duschen, dem Zähneputzen usw. – also all das, was wir in der Eile des Morgens oft mit größter Unachtsamkeit tun.

Grün Auch das ist für mich eine Form der Spiritualität. Es gibt eine Spiritualität, die führt von oben nach unten. Wenn ich im Gebet mit dem Geist Gottes in Berührung kommen möchte. Aber es gibt auch die umgekehrte Richtung: dass ich mit bewusstem Tun offen werde für Gott. Auch bestimmte Alltagsrituale können meine Beziehung zu Gott ausdrücken. Wenn ich darauf achte, was eine Tür sein kann, nämlich eine Verbindung und Abgrenzung zugleich; oder ein Weinstock als Geschenk des Himmels – dann sehe ich auch die Beziehung zu Gott.

Überhaupt öffnen und schärfen Sie mit dem Staunen den Blick für das scheinbar banal Alltägliche.

Grün Die kleinen Dinge können zum Symbol werden für meine Beziehung zu mir selber. Wenn ich etwa in der Kirchenbank aufrecht sitze, kann ich durchaus empfinden, was es heißt, thronend zu sitzen: achtsam sein, herrschen und nicht beherrscht werden, meine Würde entdecken.

Kann man sich wieder sensibel machen für das Staunen?

Grün Das geht schon, wenn ich bereit dazu bin, Dinge wieder so zu sehen, als hätte ich sie noch nie gesehen: die Natur zum Beispiel, den Menschen, mein Zimmer.

Jetzt sagen natürlich alle geschäftigen Menschen: Der Anselm Grün hat gut reden in der Ruhe seines Klosters. Mein Leben sieht anders aus.

Grün Aufstehen tun alle Menschen sowieso. Ob sie das nun achtsam machen oder unachtsam, ist wirklich kein Zeitunterschied. Und das achtsame Zähneputzen dauert auch nicht länger. Gerade der Zeitmangel ist in meinen Augen oft nur eine Ausrede. Denn es geht zunächst einmal darum, das, was ich tue, bewusst zu tun.

Wann oder worüber haben Sie zuletzt gestaunt?

Grün Neulich bin abends von Köln aus heimgefahren. Und da habe ich über das milde Licht gestaunt, das sich da auf den Feldern ausbreitete. Da habe ich schon sehr gestaunt, wie schön am Abend doch unsere Welt sein kann.

Lothar Schröder sprach mit Pater Anselm Grün