Auf Reise mit einem Buch Unterwegs in Leipzig

Weimar (RPO). Unser Autor Stefan Petermann geht mit seinem neuen Buch Ausschau halten nach Tigern auf Lesereise. Für uns schreibt er einen Tourblog.

 Und jetzt geile Literaturanspielung: Ein Tisch ist ein Tisch. Auch in Leipzig.

Und jetzt geile Literaturanspielung: Ein Tisch ist ein Tisch. Auch in Leipzig.

Foto: Stefan Petermann

Weimar (RPO). Unser Autor Stefan Petermann geht mit seinem neuen Buch Ausschau halten nach Tigern auf Lesereise. Für uns schreibt er einen Tourblog.

 Stefan Petermann - das Phantom der deutschen Fantasy-Literatur bei seinem Auftritt in Jena.

Stefan Petermann - das Phantom der deutschen Fantasy-Literatur bei seinem Auftritt in Jena.

Foto: Stefan Petermann

Leipzig, 17. bis 20. März 2011, Buchmesse

 Wer sich in Jena langweilt, langweilt sich auch in New York oder Paris.

Wer sich in Jena langweilt, langweilt sich auch in New York oder Paris.

Foto: Stefan Petermann

Gewissermaßen ist das ein Anfang. Und außerdem geht es weiter. Ein neues Buch, die bekannten Orte. Leipzig, die Moritzbastei, die Lange Lesenacht, 50 Lesungen, etliche zur gleichen Zeit. Da könnte ich schreiben, was ich vor einem Jahr schon geschrieben habe. Dann sitze ich aber im Backstageraum vor einem gigantischen Spiegel mit Glühbirnen am Rahmen, ein Spiegel, wie er in Filmen über das Showbiz immer eine große Rolle spielt. Hier spielt das Nichtrauchergebot eine noch größere Rolle, weshalb etwa ein Viertel des Spiegels von einem entsprechenden Verbotsschild bedeckt ist. Vor dem Spiegel stehen Moderator und Autor und rauchen. Das ist keine Geste des Aufbegehrens, sondern es sind, naja, einfach zwei Menschen, die vor dem Gang auf die Bühne noch einmal rauchen.

 Ein Königreich für ein "h". Muaaaaaa.

Ein Königreich für ein "h". Muaaaaaa.

Foto: Stefan Petermann

Stunden zuvor hatte Tino Hanekamp in der Veranstaltungstonne einen Schuss aus einer Pistole abgefeuert. Der Klang von Platzpatronen wurde Minuten später noch von den Steinwänden zurückgeworfen. Danach traf ich K. fünf Minuten vor ihrer Lesung. Sie sagte etwas wie "Es ist sehr heiß hier", was stimmte, weil es in der Ratstonne geradezu unerträglich heiß war. Ich hätte nicken oder "Ja" sagen oder ihr viel Erfolg wünschen können. Stattdessen allerdings antwortete ich, aus Gründen, die in diesem Moment, aber auch später nicht mehr nachvollziehbar waren: "Dann lies doch einfach schneller." Das war interessant, weil überhaupt kein logischer Zusammenhang zwischen der Lesegeschwindigkeit und der Raumtemperatur existiert. Und wieso sollte man jemanden auffordern, schneller zu lesen, fünf Minuten vor Beginn der Lesung? In der nächsten Stunde jedenfalls, jedesmal, wenn K. das Tempo auch nur minimal anzog, traf mich das schlechte Gewissen hart. Fast wünschte ich mir vor meiner Lesung eine Retourkutsche, etwas wie "Iss doch fix noch Spinat, auf dass die Blätter zwischen deinen Zähnen hängenbleiben" oder "Kipp doch das Mineralwasser über dein Buch" oder "Beleidige doch das Publikum grob", eine Form von Ratschlag eben, die man vernünftigerweise niemandem erteilt.

 Stefan Petermann macht ein

Stefan Petermann macht ein

Foto: Stefan Petermann

Dann sitze ich aber gegen halb zwölf ratschlagslos am Tisch und lese "Außer Atmen." Und damit beginnt die faszinierende Geschichte von der Lesereise zu Ausschau halten nach Tigern. Sechzehn Erzählungen, die in den nächsten Monaten durch das Land getragen werden, quasi mein Gegenentwurf zum Moratorium. Ein Motiv, das sich durch alle Texte darüber ziehen wird, ist das Einschätzen der Umstände und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen, welche Erzählung für diesen Ort und diese Zeit die perfekte ist. Und weil ich ja nicht weiß, ob ansonsten noch interessante Begebenheiten zu beschreiben sein werden, gebe ich diesen Trumpf nicht schon heute aus der Hand und schreibe auch nicht darüber, ob ich denke, dass "Außer Atmen" die perfekte Erzählung für die Veranstaltungstonne eine halbe Stunde vor Mitternacht gewesen sein könnte. Stattdessen verwerte ich anschließend Getränkemarken sinnvoll.

 Harald Martenstein, der zweitbeste Kolumnist der Welt.

Harald Martenstein, der zweitbeste Kolumnist der Welt.

Foto: Stefan Petermann

Einen Tag später ist es fast Rock´n´Roll. Zumindest aber Indiefolk. Zwei Lesungen im Abstand von nur einer Stunde. Deshalb hetzt gegen acht Uhr am Abend ein Auto durch Leipzig. Ideal wäre ein harmloser Unfall, Blechschaden und Nasenbluten und dann zu Fuß bis ins Theater Fact, um mit letzter Kraft die Tür zum Lesesaal aufzustoßen und zu rufen: "Ich habe es für die Literatur getan." Die Realität ist — und das ist wirklich ungewöhnlich für 2011 — weitaus unspektakulärer. Was ja nicht unbedingt von Nachteil sein muss. Zum ersten Mal lese ich "Schweineholger", was mich schon im Vorfeld aufgewühlt hat, weil es ja nicht so ist, dass es Schweineholger irgendjemandem einfach machen würde. Mit Standpunkten zum Beispiel. Jedenfalls kommt es deshalb danach zu Gesprächen und das wünscht man sich ja eigentlich immer: Gespräche über Geschichten. Im späteren Verlauf des Abends … aber auch das ist ein Trumpf und soll diesmal kein Thema sein. Nur soviel: Irgendwann taucht in der alten Post der Sänger einer beliebten deutschsprachigen Band auf, der zugleich Autor einer sehr bekannten Buchtrilogie ist, und irritiert mit seiner überdimensionalen Brille, die größer ist als alle Brillen aller im Verlagswesen Beschäftigten zusammengenommen.

Auf Reise mit einem Buch: Unterwegs in Leipzig
Foto: Von Stefan Petermann

So eine Buchmessewoche ist natürlich nicht komplett ohne Buchmesse. Ohne vertraute Bestandteile wie: am blauen Sofa feststellen, dass die interessanten Gäste gerade vor zwanzig Minuten das blaue Sofa verlassen haben oder erst in zwei Stunden Platz nehmen werden. In zwei Stunden aber ist man gerade in Halle 3 und schaut zu, wie Papier geschöpft wird. Und kann sich nicht zwischen Magnum Mandel und Magnum Cocoa entscheiden. Oder möchte unbedingt sehr gern in Besitz einer dieser fantastischen Juri-Gagarin-Tragetasche gelangen. Und bekommt ein Schokoladenherz in die Hand gedrückt. Und ist im Nur-Flug-Modus und schiebt sich halb euphorisch, halb apathisch durch Gänge bzw. lässt sich schieben. Oder schaut, ob Japan thematisiert wird. Und muss dafür die Cosplayer besuchen. Dort hängen die weißen Flaggen mit dem roten Punkt und da stehen die Spendentöpfe. Außerdem ist ja so gut wie jedes Kostüm sowieso schon Statement für Japan. Außer vielleicht dem Black Swan.

Auf Reise mit einem Buch: Unterwegs in Leipzig
Foto: Von Stefan Petermann

Um die Mittagszeit schließlich die Leseinsel der Jungen Verlage. Eine Doppellesung, mit entsprechendem Intro und futuristischen Stühlen, die überraschenderweise äußerst bequem sind. Im Vergleich zur Buchmesselesung in Frankfurt bleibt die große Publikumsfluktuation aus, d.h. man kann sich beim Lesen auf einzelne Menschen konzentrieren, die freundlicherweise auch sitzenbleiben. Deshalb ist die Irritation gering. Auch freundlich, dass mir K. fünf Minuten vor Lesung nicht zuflüstert "Lies doch einfach mal schneller." Dafür jedoch wird die nächste halbe Stunde von einer Videokamera festgehalten, für das Internet, dieses unbestechliche Werkzeug des Bösen, das alle Fehler für alle Zeiten unbarmherzig konserviert. Deshalb wäre es gut, so wenig Fehler wie möglich zu machen und aus diesem Vorsatz erwachsen mehr Fehler als gewohnt. Nicht unbedingt optimal, auch wenn später mehrmals der Satz fällt: "Das war doch okay. Und bestimmt dachten alle, du hättest den Text zum ersten Mal gelesen." Trost sieht anders aus.

 Dort hat unser Autor gelesen. Witzige Menschen sagen: Die heißeste Lesung der Saison.

Dort hat unser Autor gelesen. Witzige Menschen sagen: Die heißeste Lesung der Saison.

Foto: Stefan Petermann

Bevor ich Leipzig verlasse, passiert das größte Kompliment, das die Buchmesse einem machen kann: Ausschau halten nach Tigern wird vom Stand geklaut. Eben noch lag es in Plastik eingeschlagen auf dem Tisch und in der nächsten Sekunde schon hat es sich ein interessierter Messebesucher unter den Nagel gerissen. Ein perfekter Abschluss könnte nicht anders aussehen. Im Zug sitzen Stunden später die Maids und Krieger, Elfen und Steampunker auf reservierten Plätzen und klicken sich durch die Speicherkarten ihrer Digitalkameras. Während sie in bequeme Jogginghosen schlüpfen, spiegelt sich mein Gesicht in der Scheibe des ICs. Und seltsam: es erscheint mir fremd. Weil ich im Laufe der letzten Tage unerklärlicherweise Martin-Walser-Augenbrauen bekommen habe.

 Dort wird bald unser Autor Stefan Petermann sitzen. Möglicherweise rasiert er sich gerade noch.

Dort wird bald unser Autor Stefan Petermann sitzen. Möglicherweise rasiert er sich gerade noch.

Foto: Stefan Petermann

Jena, 14. November, KuBus

 Die Erfurter Sandwich-Bar "Peckham's" von außen. Sieht man ja.

Die Erfurter Sandwich-Bar "Peckham's" von außen. Sieht man ja.

Foto: Stefan Petermann

Diesmal haben die Menschen Trommeln mitgebracht. Auf die schlagen sie rhythmisch ein, brüllen dazu im Chor und schwenken Fahnen, während ein Moderator mit überschnappender Stimme sie anstachelt, noch energischer zu schlagen, noch lauter zu brüllen und noch enthusiastischer zu schwenken. Die bis auf den letzten Platz gefüllte Halle ist ein einziger Hexenkessel, der jede Sekunde unter soviel Energie zu explodieren droht.

 Autor Stefan Petermann war nicht zufrieden mit seinen Haaren und blieb deshalb dem Bild fern.

Autor Stefan Petermann war nicht zufrieden mit seinen Haaren und blieb deshalb dem Bild fern.

Foto: Stefan Petermann

Etwa hundert Meter Luftlinie vom Basketballzweitligaspiel Science City Jena gegen die Saar-Pfalz Braves sitze ich in einem roten Sessel. Und habe das Gefühl, dass dies das einzig Relevante ist, was ich über die heutige Lesung sagen kann. Denn irgendwie ist da nichts mehr, was mir einfällt. Alle originellen Beobachtungen schon aufgeschrieben, alles Unterhaltsame zu Pointen am Ende von Absätzen zu verarbeitet, Namen gedroppt und auf notwendige Widersprüche hingewiesen. Vielleicht rührt dieses befreiende Gefühl der absoluten Leere daher, dass diese Lesung heute möglicherweise die letzte Lesung mit "Der Schlaf und das Flüstern" sein könnte. Geplant ist danach keine mehr. Was allerdings von Plänen zu halten ist, steht unter anderem im Lesetagebuch von Hamburg.

 Stefan Peter Licht liest in Leipzig aus seinem Debütroman vor.

Stefan Peter Licht liest in Leipzig aus seinem Debütroman vor.

Foto: Stefan Petermann

Natürlich geht das nicht, nichts zu denken. Ansonsten wäre der Text ja genau an dieser Stelle am Ende. Dann könnte ich kaum über Jena-Lobeda schreiben, dieses in der Nacht gestrandete Ufo. In jedem Plattenbaufenster glimmt Licht. Der KuBuS ist eines der wenigen einstöckigen Gebäude hier, voller Farben. Keine einzige graue Stelle lässt sich entdecken. In einem Proberaum spielt eine Band Neil Young, was laut ist und okay, weil sie genau 19.00 Uhr aufhören werden, weil ich genau 19.05 Uhr beginnen werde.

 Die Leipziger Buchmesse - könnte aus der Entfernung auch die Immobilienbörse sein.

Die Leipziger Buchmesse - könnte aus der Entfernung auch die Immobilienbörse sein.

Foto: Von Stefan Petermann

Ohne viel Aufhebens. Und ich weiß nicht, ob das gut so ist. Kein Lampenfieber, keine Aufregung, nichts, was mich aus dem Gleichgewicht zu bringen droht. Einfach hinsetzen, ein paar nette Sätze sagen und dann exakt die Textstellen lesen, die sich auch bisher als nicht vollkommen ungeeignet entpuppt haben. Dabei mehrfach die Sitzposition wechseln, die Füße unterschlagen, kein Mikrofon vermissen, stattdessen deutlich sprechen, aber nicht zu deutlich, laut lesen, aber nicht schreien, Pausen zwischen Absätzen einlegen, aber nicht quälend, zu den Gästen schauen, aber nicht zu penetrant, die Stimme variieren, aber nicht zu theatralisch, sich eine gewisse Portion Fahrigkeit gönnen, aber niemals komplett die Kontrolle verlieren. Alles also wohldosiert, in Watte gepackt und trotzdem noch genügend von den Umwelt mitbekommen.

 Der

Der

Foto: Von Stefan Petermann

Vielleicht ist das tatsächlich der einzige Weg, wenn man nicht bei jeder Lesung Rasierklingen zur Verfügung hat, mit der man in Stirnen schneiden kann. So fühlt sich Normalität an. Bei allen Vorzügen bleibt dieser Makel: Normalität ist langweilig für andere. Darüber muss kein Wort verloren werden. Deshalb bin ich froh, als am Ende doch noch etwas passiert. Fragen werden gestellt. Über den Zustand. Über das Zeitanhalten. Neugier wird geweckt, denn: Pola ist offensichtlich der zweite Mensch in der Geschichte, der die Zeit anhalten kann. Der erste war Nostradamus. Dann geht es über die Idee zu dem Buch, über mein Studium, über meine Musik, über die Reime in meiner Musik, über meinen Geburtsort, über mein Alter. Also jede Menge ich. Eigentlich fast schon zu viel ich. Ganz sicher zu viel ich. Geschickt arbeitet der Fragesteller in die Fragen meine CV ein. Fakten über mein Leben, interessantes Insiderwissen, lauter Dinge, die man im Netz zusammensuchen kann und die für sich genommen harmlose Informationen sind, der geballten Summe hier jetzt im KuBuS allerdings irgendwie auch leicht furchteinflößend. Ich interpretiere die Offenlegung einiger Teile meines Lebens dann doch als Kompliment.

 Blöd: Die Postmoderne hat den Autor aufgelöst.

Blöd: Die Postmoderne hat den Autor aufgelöst.

Foto: Stefan Petermann

So bricht der Abend an. Das Leseexemplar des Buches, das mit den vielen bunten Klebezetteln, den Bleistiftanmerkungen und Eselsohren, wird sorgsam in einen Stoffbeutel gepackt. Ein letztes Mal Datum, Ort und Unterschrift in ein Verkaufsexemplar geschrieben. Das Glas Leitungswasser ausgetrunken. Vor die Tür getreten, in die warme Novemberdunkelheit. Aus der Werner-Seelenbinder-Halle strömen erschöpfte, aber zufriedene Science-City-Anhänger. An der Haltestelle fährt die Straßenbahn der Linie ein, auf der tags zuvor ein Kontrolleur zusammengeschlagen wurde. In sie könnte ich steigen und mich in die Stadt bringen lassen, zurück an Orte, an denen auch alles im Gleichgewicht ist. Normalität also. Oder umdrehen. Und loslaufen, ins Gegenteil davon, um zu sehen, wohin das führen könnte.

 Die Riff-Halle in Bochum und unser Autor mal wieder hinter der Kamera.

Die Riff-Halle in Bochum und unser Autor mal wieder hinter der Kamera.

Foto: Stefan Petermann

Köln, Frankfurt, 6. bis 10. Oktober

 Der Autor in Köln. Nicht im Bild: der Autor.

Der Autor in Köln. Nicht im Bild: der Autor.

Foto: Stefan Petermann

Manchmal steht ein Moment für alles, was sonst ist. Zum Beispiel Diego Armando Maradona. Dieser läuft eben an mir vorbei. Wobei. Eben, am Samstagnachmittag auf der Buchmesse in Frankfurt, läuft jemand an mir vorbei, ein Mann, die Haare nach hinten gegelt, im Ohr einen Brillanten, der Körper steckt in einem sackgrauen Anzug. Das könnte Maradona sein. Wenn ich mir sicher wäre. Sackgrauer Anzug bedeutet ja normalerweise automatisch: Da steckt Maradona drin.

 Unser Autor mal wieder voll im Bild.

Unser Autor mal wieder voll im Bild.

Foto: Stefan Petermann

Zwischen "Da könnte ich mir sicher sein" bis "Das ist so" liegt ein Wimpernschlag, eine Entscheidung, die man nicht trifft oder doch trifft und die dann so bestehen bleibt. Ich treffe sie und Sekunden später schon sind Freunde und Bekannte informiert. Ja, ich habe Diego Armando Maradona getroffen und ich werde für den Rest meines Lebens Maradona getroffen haben. So ist das, auch wenn das vielleicht jemand ganz anderes im sackgrauen Anzug war. So ist das auch mit Beobachtungen. Es gibt die, die ich mache, und die, die ich aufschreibe und letztlich sind nur die letzteren von Dauer.Zum Beispiel Köln. Dazu möchte ich eigentlich nicht viel schreiben, außer dass ich dort nicht aus "Der Schlaf und das Flüstern" gelesen habe und dass ich trotzdem schreiben will, dass ich mich auf die erste Platte des Mount St. Helen Duets freue, die heute zwischen den Texten Musik mit zwei Gitarren und einer Stimme machen und dass mir das sehr gut gefällt und Toby Hoffmann und Andy Rosczyk hoffentlich bald an jedem Abend in einer anderen Stadt spielen werden. Ich möchte schreiben, dass Wohngemeinschaften niemals so geräumig und so sauber sind wie DIE WOHNGEMEINSCHAFT in der Richard-Wagner-Straße und so viele nichtalkoholische Getränke gibt es da auch eher selten. Außerdem schreibe ich, dass ich mich auf das nächste Jahr freue, wenn ich den einen Text öfter vorlesen kann und gern jedesmal mit einem komplett anderen emotionalen Gefühlshaushalt und dass ich "emotionalen Gefühlshaushalt" gern mal in einem Zwiebelfischabrißkalender sehen würde und gespannt wäre, was Bastian Sick dazu einfiele. Und schließlich schreibe ich, wie überrascht ich war, als ich zum ersten Mal und aus Gründen von Hunger und mangels Alternativen etwas bei Kamps gekauft habe und ich entgegen aller Erwartungen damit der Hölle nur einen kleinen Schritt näher gekommen bin.

Auf Reise mit einem Buch: Unterwegs in Leipzig
Foto: Stefan Petermann

Am Freitag beginnt dann endlich die Buchmesse in Frankfurt. Weil ich da bin schreibe ich nicht, sondern vom Verlagsessen. Freundlicherweise haben sich Nico und Stefan um etwas Entscheidendes bemüht; nämlich Lokalkolorit. Diesen angemessen wiederzugeben wäre unterhaltsam für alle, die dabei waren, alle anderen würden vielleicht die Pointen vermissen. Aber soviel ist klar: Missverständnis, dein Herz schlägt gegenüber der Heussenstammgalerie und du babbelst. In der Heussenstammgalerie findet am Abend ein interessantes Experiment statt: ein Gespräch über Bücher. Auf der einen Seite sitzt Marco mit seinem eben erschienenen Postkartenbuch über New York, links davon ich und dazwischen Martin, der bewundernswert versiert, gelassen und freundlich moderiert. Er stellt Fragen und da wird es schon aufregend: denn eine Frage bezieht sich auf die Texte über die Lesung, also eben das, was gerade gelesen wird. Und es ist irgendwie seltsam über etwas zu sprechen, was ich ja vorzugsweise nur für mich tue und das dennoch da draußen ist und wirkt. Und als wäre das nicht schon kompliziert genug, sage ich so etwas wie "Jaja, ich verarbeite, was passiert, indem ich es aufschreibe, zum Beispiel werde ich später über genau diesen Moment schreiben." Dabei schaue ich, was eher selten ist, direkt ins Publikum und denke, dass man diese Aussage auch als Drohung verstehen könnte und merke, dass viele sich unwohl fühlen, zu recht, auch ich. Und gerade jetzt, wenn ich einlöse, was ich ankündigte, wenn ich diesen Moment beschreibe, von dem ich sagte, ich würde ihn beschreiben, dann wird das selbst mir zu selbstreflexiv und sich selbst spiegelnd.

 Herta Müller und Stefan Petermann - wer besser aussieht, ist ja wohl klar.

Herta Müller und Stefan Petermann - wer besser aussieht, ist ja wohl klar.

Foto: Stefan Petermann

Glücklicherweise schaltet sich da Marco ein und stellt Fragen und man kommt tatsächlich ins Gespräch. Später lässt Marco noch Karteikarten ziehen und Martin hakt nach und mir fällt ein, dass Woody Allen und New York auch irgendwie zusammen gehören und schon steht die nächste Frage im Raum. Währenddessen wird der Hotpreis der Shortlist verliehen, man könnte anschließend zu Abend- und Nachtveranstaltungen gehen, etwas, das offensichtlich zu Buchmessezeiten in Frankfurt hin und wieder geschieht.

Am Sonntag hört die Buchmesse auf. Weil ich Frankfurt verlasse schreibe ich nicht, sondern: Die Leseinsel. Was sind die Merkmale einer Insel? Und warum heißt die Leseinsel dann Insel? Denn leichter war es nie, einen Ort zu erreichen und, viel wahrscheinlicher noch, zu verlassen. Nichts mit Faradays Anweisungen oder dem Dharmauboot. Ich hatte mir das ja so ausgemalt, dass ich vor leeren Bänken lese. Dann kämen aber die Menschen, angezogen vom sirenenhaft sonorem Klang meiner Wahrheit verkündenden Stimme, die Menschen würden sich ansammeln und ballen, die MitarbeiterInnen der umliegenden Verlagsstände würden wichtige Geschäftsgespräche abbrechen, um nach vorn zu drängen, es käme zu einem positiven Aufruhr, das Wort würde die Runde machen und auf dem blauen Sofa würde Jonathan Franzen dem Moderator etwas ins Ohr flüstern und Minuten später würde er sich gemeinsam mit allen ZDF-Kameramännern zum Zentrum des Tumultes vorkämpfen, in dem ich säße wie eine Spinne in ihrem Netz, wie im Auge einer Windhose und jeder Menge anderer bekannter Metaphern. Tatsächlich ereignet es sich auch fast so, nur dass die Insel eben keine Insel ist. Also kommen Leute und sitzen und hören zu und stehen auf und gehen und andere kommen, stellen die schwerbepackten Papierbeutel vor die Füße und gönnen sich einen Augenblick des Friedens.

Nun ist Frieden nicht meine Absicht. Besser Revolution, besser noch das Gefühl, ich könnte die Menschen fesseln. Also konzentriere ich mich auf die Damen in der ersten Reihe und als diese die Insel verlassen auf das Pärchen weiter hinten und als er sie sanft anstupst und beide daraufhin aufstehen auf das an der Säule lehnende junge Mädchen und als sie sich umdreht eben auf den nächsten, die nächste, das nächste. Damit bin ich kaum konzentriert beim Vorlesen. So gibt es zu dieser Stunde zwei Ichs; eines, welches Menschen abcheckt, und eines, welches irgendwie die Worte zu Sätzen fügt.

So vergeht die Zeit und wenn ich einen besser Schlusssatz hätte als diesen, würde ich nicht schreiben: Ich mache gern neue Erfahrungen in meinem Leben. Damit kommt man beim Big-Brother-Casting weiter und in Beschreibungen von Beobachtungen vom Lesen.

Am Samstag übrigens laufe ich weiter durch Halle 5.0. Da ist der Stand des diesjährigen Partnerlandes: Argentinien. Ein zweites Mal kommt mir der sackgraue Anzug entgegen. Ein Familienvater wird kreidebleich, klammert sich an seinen Sohn und stammelt "Das … das … das ist doch Maradona!" Endlich bin ich sicher: So ist das. Wenigstens diese Erinnerung muss stimmen.

Nächster Termin: 14. 11. 2010 | Jena

Darmstadt, 2. September, Der Schlauch

Schön sind neue Ebenen, die man auf Lesereisen erreichen kann. Diesmal: ein Chauffeur. Der wartet vor dem Hotel, welches an der Rezeption für seine Gäste die komplette Werksausgabe von Peter Scholl-Latour bereithält. Der Chauffeur ist natürlich kein Chauffeur, sondern ein freundlicher Bekannter des Veranstalters und hat mehr Wissenswertes über Darmstadt zu berichten, als ich mir beim oberflächlichen Lesen des entsprechenden Wikipediaeintrages habe merken können.

Wobei seine Informationen mit diesen Ablenkungen kollidieren. a; der Beifahrergurt funktioniert nur rudimentär und b, Spuren werden hier schneller gewechselt als Marionettenregierungen in Pakistan. Man schlägt also mit dem Kopf gegen Fensterscheiben oder das Handschuhfach, sieht in den kurzen Ohnmachtsphasen einen jugendlichen, hemdlosen Scholl-Latour vor den Augen aufblitzen, während man interessante Details über die Konkurrenz zwischen Darmstadt und Wiesbaden erfährt. Am Ende kommt man an, standesgemäß an einem Schloss, natürlich an einem Schloss, denn dort findet die heutige Lesung statt.

Natürlich findet die Lesung nicht im Schloss statt. Sondern unter dem Schloss. Im Künstlerkeller. Der nette Chauffeur nennt ihn scherzhaft "Das schwarze Loch." Tatsächlich ist es dunkel. An den Wänden hängen barocke Gemälde, Masken, Uhren und Dinge aus Holz, auf den Tischen stehen Klappkarten: "Heute Lesung." Außerdem fällt auf, dass der Keller ein Schlauch ist, etwa zwei Meter breit und mindestens hundert Meter lang. Im vorderen Viertel ein Tisch mit Licht, im hinteren Viertel eine Bar, dazwischen eine Menge Tische.

Die gute Nachricht: An allen wird Platz genommen. Man sitzt und bestellt Gerichte und Rotwein. Besteck klappert, es wird miteinander gesprochen. Dann spreche ich, zweimal eine halbe Stunde, von Pola und Janek, wie immer eigentlich. Zwischen dieser und der vergangenen Lesung lag der Sommer, sage ich zu Beginn und schreibe ich hier und merke, dass dies Vorteile hat (die vorgelesenen Textstellen erscheinen mir etwas unverbrauchter) und Nachteile (die vorgelesenen Textstellen erscheinen mir etwas fremder, weshalb ich lieber Worte zweimal vorlese). Ich lese also und denke naja, vielleicht wäre es mal Zeit für andere Passagen. Weil Reaktionen sind wenig spürbar, beungünstigt durch die räumlichen Gegebenheiten in Schläuchen und das Verhalten von Licht in Schläuchen.

Dann ist Pause und ich weiß nicht so recht. Bevor aber Zeit für Grübeleien wäre, gibt es ermutigende Motivationsgespräche mit K. Schweigen wird als konzentriertes Zuhören geoutet und sie gibt wieder, was man sich an den Tischen bisher so über die Lesung erzählt. Sagen wir so: Danach habe ich keine Probleme damit, den Abend als gelungen zu empfinden. Ein gutes Gefühl, das mich zu Höchstleistungen anspornt. Gerade im letzten Teil, das Zittern ihrer Lippen, jedes Wort werfe ich wie Diamanten in den Raum, jeder Satz ist die Salbung von Königen. Da aber bemerke ich doch eine Reaktion. Jemand gähnt, wahrscheinlich die Person, die so nah der Bühne sitzt wie keine andere. Es ist kein Nun-Hör-Schon-Auf-Damit-Junge-Gähnen, sondern ein Halb-Zehn-Nach-Einem-Langen-Arbeitstag-Gähnen. Ich weiß: Für Gähnen gibt es keine wissenschaftliche Erklärung. Aber Gähnen bleibt Gähnen, selbst wenn Sauerstoff fehlt, treibt es mich doch an, schneller zu lesen. Jede Sekunde ohne weiteres Gähnen ist ein Triumph, jedes erneute Gähnen eine Niederlage. So dauert dieser Kampf zwischen mir und der Person in der ersten Reihe mehrere Minuten. Als er zu Ende ist, ist auch die Lesung zu Ende und einen Moment später habe ich schon vergessen, dass jemand gegähnt hat bis zu dem Moment, in dem ich mich wieder daran erinnere.

Sogleich kommen die Fragen. Darüber schreibt jeder, der über Lesungen schreibt. Über Fragen, die gestellt werden. Und selbstverständlich bin ich glücklich über jede Frage, die gestellt wird. Fragen heißt Interesse. Nicht nur, dass die Leute einen Abend mit meinen Texten verbringen, nicht nur, dass man Geld dafür zahlt, dass ich meine Texte lese, nein, man fragt mich auch Sachen. Das ist nach wie vor erstaunlich und wird hoffentlich nicht so schnell Gewohnheit wie Erdbeerenessen im Juni.

Fragen also. Besonders schön: Fragen zu Sätzen. Sätze, die während der Lesung gehört und gemerkt werden. Manchmal kann ich dazu etwas sagen, manchmal bin ich darüber zu froh, als dass mir eine passende Bemerkung einfiele. Desweiteren gibt es inhaltliche Hinweise. Zur Praxis in Kinderheimen. Oder dem Präparieren von Schmetterlingen. Fragen zum Ort, zur Zeit. Viel öfter allerdings die Frage, wie man eigentlich ein Buch schreibt. Wie Thomas Mann, nach striktem Zeitplan? Oder Drogen nehmen und im Rausch Genialität aufs Papier kotzen? Fragen zum Verlag. Fragen, warum man schreibt. Wie man anfing. Vorbilder. Alles Fragen, die auch ich stellen würde. Gerade diese, die auf einem sicheren zweiten Platz der ewigen Fragenliste steht: Wie sind sie / bist du auf die Idee zu dem Buch gekommen?

Eine Zeitlang überlegte ich, mir eine außergewöhnliche Geschichte auszudenken. Neulich, als ich mit der Progress zur ISS flog, gerieten wir in ein schwarzes Loch, in dem die Zeit unter dem immensen Druck zum Stillstand kam und nur ein Schmetterling aufgeregt umherflatterte. Aber naja. So außergewöhnlich ist das dann doch nicht. Dann doch lieber die Wahrheit. Die ist alles andere als ein Smalltalkhighlight und erschöpft sich spätestens nach vier Sätzen, weshalb ich am Ende, statt einer Pointe, auf Frank Schätzing und den geträumten Schwarm ablenke, oder aktuell, auf Jonathan Safran Foer. Tiere Essen mit Söhnen.

Den Spitzenplatz der Frageliste belegt: "Kann man davon eigentlich leben?" Mit davon ist vermutlich Schreiben gemeint und mit Leben — darüber gibt es ja unterschiedliche Ansichten. Interessant ist, dass "Kann man davon eigentlich leben?" der aktuelle Status einer Frage ist, die eine lange Evolution durchlief. Als Kind hieß es noch: "Was willst du eigentlich mal werden?". Als Student wurde man gefragt: "Was wird man damit eigentlich später?" Und jetzt eben: "Kann man davon eigentlich leben?" Meistens steht man in solchen Momenten vor dem Fragesteller und tut so, als ob man lebt. Was meistens auch klappt.

Danach gibt es Rotwein, eine Menge, die ich nicht näher beschreiben werde. Aber sie genügt, dass ich kurz überlege, mir eines der barocken Gemälde von der Schlauchwand mitzunehmen. Stattdessen aber die Heimfahrt im Zug am nächsten Mittag. Mitreisende diskutieren über Sarrazin, Diskussionen, die oft mit "Im Prinzip hat er ja recht" beginnen und manchmal variiert werden mit: "Ich bin kein Freund des Nationalsozialismus, aber …" Aber — immer noch das wichtigste Wort der deutschen Sprache.

Nächster Termin: 8. 10. 2010 | Frankfurt

Hanburg, 10. Juni, Literaturhaus

Während der Lesereise ist Hamburg eine Konstante. Mit jedem Besuch verdoppeln sich die Kosten für die Elbphilharmonie. Und wird während der Lesung ein Weinglas umgetreten und zerstört. Quasi das MaselTov für den Roman. Jede Menge Scherben und gern auch beim Signieren der Kalauer, dass es heute hier die heißeste Lesung von allen gewesen war. Weil: Sauna im Literaturhaus.

Auf dem Barhocker neben dem Lesetisch sitzt Stefanie Hempel. Mit Gitarre. Das ist ziemlich perfekt so, weil sie singt vor, während und nach der Lesung. Musik und Text, es ist keine Floskel, wenn ich zu Beginn sage, dass dies von Anfang an ein großer Wunsch war. Sie spielt, neben eigenen Liedern, "Halleluja" in der Version von Leonard Cohen und "Harvest Moon". Später sagt sie, dass Nick Cave auch gut gepasst hätte, "Murder Ballads", oder mein Favorit, "The Boatsman's Call". Zuvor hat sie sich im Beisein des Tontechnikers gegen ein Mikrophon entschieden. Was ihn zufrieden macht. Kennt er doch die Akustik des Raums wie seine eigene Westentasche. Und ist deshalb weniger zufrieden, als ich mir eine Mikrophonierung wünsche. Wie ich lese, fragt er und ich könnte sagen: "Wie ein junger Gott". Aber er will Partizipien hören, stehend oder sitzend. Stehend findet er besser, sagt er, da kann man Texte mit viel größerer Überzeugung und Kraft lesen. Ich sage, dass ich eher ein Fan von sitzenden Wasserglaslesungen bin. Er nimmt das zur Kenntnis und meint, wenn man schon oft gelesen habe, wäre es kein Problem, auch den größten Raum noch mit der eigenen Stimme zu füllen. Daraufhin wird der Soundcheck gemacht und der Hinweis gegeben, dass man das Mikrophon verschieben soll, wenn man es lauter oder leise braucht.

Eine der wichtigsten Regeln von allen ist: Don`t mess with the Tontechniker. Ungeachtet dessen zeigt sich nach einer Anmoderation (die mich in ihrer Komprimierung von Lob erröten lassen würde, wenn angesichts der Hitze nicht sowieso schon alles rot an mir wäre) das Mikrophon seltsam bockig. Also pfeifend. Übersteuernd pfeifend. Je weiter man, nach Anweisung, das Mikrophon von sich schiebt, desto lauter pfeift es. Kein Geräusch mit dem man eine Lesung beginnen möchte. Das dauert etwa eine, gefühlt zehn Minuten. Da gehen auch sämtliche Möglichkeiten aus, mit witzig- spontanen Reaktionen zu glänzen. Glücklicherweise ist der Techniker gerade im Haus unterwegs und so löst sich das Problem, indem ich das Fenster hinter mir aufreiße und das sicher nicht billige Sennheisermikrophon in hohem Bogen in die Alster werfe. So hätte es sein können, vielleicht auch sollen. Stattdessen gilt nun: besser wäre es kein Problem, auch den größten Raum noch mit der eigenen Stimme zu füllen.

Später wird das Weinglas zerstört und später sitze ich am Tisch, bereit dafür, Bücher zu signieren. Das ist immer ein heikler Moment. Denn auch wenn man es nicht glauben kann: eine Stunde Lesen strengt an. Verscheucht alle Gedanken aus dem Kopf. Wenn man danach noch ein Fünkchen Energie in sich trägt, hat man beim Lesen etwas falsch gemacht. Deshalb wäre ich nach einer Stunde Lesung gern Fußballspieler und würde mich gern eine Stunde in den Massageraum begeben, um von erfahrenen Händen die verhärteten Muskeln lockern zu lassen. Stattdessen: den eigenen Namen in Bücher schreiben. Was natürlich eine großartige Sache ist. Und gleichzeitig furchtbar. Denn: mein, in eher zweifelhafter Handschrift geschriebener Namenszug in einem Buch? Und nur der Name? Hat nicht jeder, der ein Buch kauft, der vielleicht für die Lesung Eintritt bezahlt, das Recht auf mehr als nur einen Namen, das Recht auf einen originellen Einfall?Meistens vermerke ich als Bonus noch Ort und Datum unter dem Namen und in manchen, verrückten Momenten unterstreiche ich ausgewählte Buchstaben. Dabei hat es gute Gründe, dass ich nur selten mehr schreibe. Aber vermutlich würde man mehr erwarten. Von jemanden, der 272 Seiten mit Worten füllt, kann man mit gutem Gewissen auch zehn Worte als Widmung erwarten. Das ist ja schließlich sein Job. Nicht Skulpturen formen oder Brötchen backen. Sondern Worte schreiben.

Letztens war ich auf dem Comicsalon in Erlangen. Der Comicsalon ist eine Comicmesse, auf der Y: The Last Man neben dem Mosaik oder einer Abhandlung über die Evolution stattfindet, auf dem in Diskussionsrunden über den Rassismus in "Tim und Struppi im Kongo" bzw. "Mecki" gesprochen wird. Dort traf ich einen Künstler, der während der Messe am Verlagsstand saß und sein aktuelles Buch signierte. Etwa alle fünfzehn Minuten bat ihn jemand darum. Fünfzehn Minuten Zeit also für eine Widmung. Die natürlich den Namen enthält. Sowie eine Zeichnung. Individuell. Gern auch auf Wunsch. Während der Messe sah ich mich um. Bezüglich des Signierens ist der herkömmliche Literaturbetrieb nur eine kleine Nummer gegen den Comicliteraturbetrieb. An vielen Ständen lange Schlangen, an so gut wie allen Ständen steht immer mindestens ein Zeichner zum Signieren zur Verfügung. Und die Besucher schleppen Plastikbeutel voll mit Comicbänden an die Stände und lassen die alle signieren. Und wenn gerade niemand etwas signieren lassen will, blättern die Zeichner in ihren Büchern und zeichnen kleine Figuren und Szenen auf Seiten. Das ist so, als würde ich am Büchertisch sitzend Sätze zu den Kapiteln hinzufügen. Fußnoten, überraschend und originär.

Aber das ist nicht der Punkt. Zeichner zeichnen und Schreiber schreiben. So sollte es sein. Wenn nicht die Befürchtung wäre, ich könnte mich verschreiben. Jemand hat sich gerade durchgerungen, ein Buch für gutes Geld zu kaufen und dann schreibe ich "Hanburg, dem 10.6.2008." Oder, genauso schlimm, aus der Laune eines albernen Augenblicks heraus einen vermeintlich originellen Spruch. "Das war die heisseste Lesung aller Zeiten. Mit freundlichen Grüßen, Stefan Petermann, Hanburg, dem 10.6.2008." Ein Spruch, der für immer im Buch stehen wird, der das erste sein wird, auf das nach dem Aufschlagen der Blick fallen wird, ein Spruch, der eine Tonalität vorgibt. Da ist schon Druck da. Und je länger man über eine gute Widmung nachdenkt, desto mehr Argumente dagegen fallen ein.

Man kann natürlich auch anders argumentieren: Der Spruch hat nur eine Funktion. Und soll etwas, das nicht greifbar ist, zu einem Ding machen. In diesem Fall einen schönen Abend (der die Summe ist aus: Lesung, Musik, Bekannte treffen, etwas essen, reden, einen Statusbericht auf Twitter stellen und danach ein romantischer Spaziergang an der Alster, auf dem man die zahlreichen Höhepunkte der Lesung Revue passieren lässt). Ein Abend, an dem man sich im besten Fall erinnern möchte. Und deshalb das Buch kauft. Und deshalb das Buch signieren lässt. Und in diesem Fall kann der Spruch nicht albern genug sein. Oder pathetisch genug. Oder sinnstiftend genug, jen achdem eben, wie der Abend verlief. Und aus diesem Grund sollte es eigentlich keinerlei selbstreflexiven Überlegungen am Büchertisch, mit dem Stift in der Hand und Leere im Kopf geben. Eigentlich sollte man nur schreiben.

So funktioniert schreiben natürlich niemals. Aber ich nehme mir dennoch was vor. Für Darmstadt etwa. Bis dahin aber ein weiteres Blogphotoposen und der Besuch im Massageraum, der bei Literaturveranstaltungen immer etwas zu tun hat mit Restaurants, Wein und Gesprächen über andere Literaturveranstaltungen bzw. über Leute, die andere Literaturveranstaltungen veranstalten bzw. über diejenigen, die auf anderen Literaturveranstaltungen auftreten bzw. über die diejenigen, die nicht auf anderen Literaturveranstaltungen auftreten und warum das so ist.

Erfurt, 27. März, Peckham's

Am Tag vor Erfurt bin ich in Erfurt. Wegen eines Gespräches im Radio. Kaum gibt Johannes, der Moderator, bekannt, dass Bücher verlost werden, leuchten die Lichter auf, welche ankommende Anrufe signalisieren. Und "kaum" bedeutet "fast unmittelbar", so schnell jedenfalls, dass der Verdacht naheliegt, die Anrufer haben die Nummer des Radios auf einer Schnellwahltaste gespeichert. Aber schön und beim Lesen viel Freude, Christiane und Carsten. Auf der Rückfahrt im Zug sehe ich den russischen Balalaikaspieler, der seit dem letzten Sommer ständig in Weimar ist. Er sitzt auf einem Klappfaltstuhl und spielt Kalinka. Ausschließlich Kalinka, nahezu jeden Tag, in Weimar. Wenn er mal nicht da ist, fällt das auf. So sehr, dass ich das Goethe-Schiller-Denkmal nicht mehr ansehen kann, ohne die Melodie von Kalinka im Kopf zu haben. Jetzt fährt er offensichtlich zur Arbeit nach Weimar. Aus Erfurt, einer Stadt, in der Sprayer extra "Wir Terroristen grüßen euch Touristen" an Wände sprühen und es etliche Orte gibt, die historisch sind und deshalb auf Postkarten abgebildet sind, welche gekauft werden von Touristen. Fast viermal so so groß wie Weimar ist Erfurt und dennoch wählt der Balalaikaspieler Weimar als Ort seiner Erwerbstätigkeit.

Erfurt dann am Tag nach diesen Beobachtungen. Auf dem Domplatz ist Altstadtfrühling. Die Vorstellung ist reizvoll, dass die Schreie der Menschen in den Adrenalinmaschinen während der Lesung ins Peckham`s dringen könnten. Das Peckham`s ist eine Sandwichbar mit Kickerraum, Hausbibliothek und DJ-Ecke. Zu Sandwiches habe ich keine enge Beziehung. Man isst sie, manche sind lecker und manchmal kauft man am Bahnhof doch die Dreieckssandwiches in Plastik, weil der Backfisch bei Nordsee gerade aus ist. Dabei können Sandwiches durchaus eine Kunstform sein, so wie Suppen oder frisch gepresste Säfte. Ein kulinarisches Subgenre also, von dem ich heute profitieren könnte. Leider ist es so, dass Lesen eine Sache ist und Essen/Trinken eine andere. Das passt meistens nicht zusammen. Ein voller Magen suggeriert Zufriedenheit, die vor und während des Lesens nicht entstehen sollte. Vor oder während des Lesens sollte Anspannung herrschen, das beunruhigende Gefühl, man sollte sich Zufriedenheit erst verdienen müssen. Deshalb kein Essen vorher und wenn doch, dann niemals Spinat.

Wie auch immer. Im Peckham`s sind jedenfalls schon mal zwei BesucherInnen. Die reden über Online-Rollenspiele und erheben sich kurz vor dem ausgeschriebenen Beginn. Drehen sich um und fragen, ob sie eine der ausliegenden Buchpostkarten mitnehmen können. Jetzt wäre die Möglichkeit, eine originelle Antwort zu geben. So wie "Klar, NACH der Lesung" oder "Wenn du das Buch kaufst, gibt's die sogar gratis dazu." So originell eben. Stattdessen ist mein Nicken beflissen und ich sage etwas wie "Aber gern doch." Danach ist das Peckham`s bis auf die Besitzer und die Bedienungen erstmal leer. Also fast unmittelbar vor dem ausgeschriebenen Beginn.

Zuvor schon wurde eine Abmachung getroffen. Das "akademische Viertel" soll abgewartet werden. Aus Erfahrungen weiß ich, dass Warten niemals gleich Warten ist. Warten ist also immer anders. Mal sehen sehen, wie es heute wird. Zuerst trudeln innerhalb weniger Minuten doch Gäste ein. Jetzt wäre ein perfekter Zeitpunkt loszulegen. Aber weitere Zeit muss vergehen. Ich versuche mich mit einem Artikel über "Heavy Rain" abzulenken, was nicht gerade hilfreich ist. Jemand schreibt, nach dem Spiel wisse man die Realität wieder zu schätzen. Gedanken schießen durch den Kopf, die nur die Absicht haben, mich zu verwirren. Indem sie die ersten Minuten der Lesung simulieren.

Im Normalfall setzt man sich ja nicht hin und liest sofort los. Sondern sagt einleitende einladende Sätze, in denen Worte wie "schön", "freue", "mich" und "danke" vorkommen können. Bei Bedarf kann man das beliebig ausbauen, sogar die Anwesenden einbeziehen, den Ort beschreiben, von amüsanten Anekdoten erzählen und dann elegant zum eigentlichen Thema, dem Buch, überleiten. Die Quantität solcher Eröffnungen hängt immer von der Tagesform ab, die Qualität sowieso. Beides entscheidet sich meist erst in dem Augenblick, in dem man die Bühne betritt.

Aber das Warten auf den Augenblick, in dem ich die Bühne betrete, führt zu folgendem: Ich plane genau, was ich sagen will und das ist nicht gerade besonders kreativ. Pointen planen, die dann wie frisch wirken sollen. Aber man ist natürlich nicht da, damit auf Schenkel geklopft wird. Wozu aber dann? Vielleicht ein weiteres Mal die Sache mit den verschiedenen Perspektiven bei "Heavy Rain" lesen und Vergleiche zu den verschiedenen Perspektiven in "Der Schlaf und das Flüstern ziehen"? Möchte ich das überhaupt noch, etwas zu den "verschiedenen Perspektiven in "Der Schlaf und das Flüstern" denken oder sagen oder hören? Dann schon lieber einen Rhythmus auf die Sessellehne klopfen. Einer der Gäste, deren Zahl nun doch steigt, dreht sich um. Das ist ja auch weniger cool: Vor der Lesung den Autoren in einem Moment der Schwäche ertappen. Warum eigentlich schwach? Ich werde lesen und danach ein Sandwich essen. So wird mein Abend sein. Und er wird großartig sein.

Zur Bar schaue ich und beobachte jede Bewegung. Könnte ja sein, dass die Moderatorin genau jetzt kommt und alles beginnt. Ist aber nicht so. Ein wenig umhergerutscht, ein wenig am Handy gespielt, zum Spaß vom lautlosen Klingelton auf Klingelton mit Vibration gestellt. Da könnte man ironisch reagieren, wenn das Autorenhandy bei der Lesung läutet. Das AUTORENHANDY! WÄHREND der Lesung! Wie unerwartet und deshalb originell! Von solchen Zwischenfällen träumen spontane Charaktere.

Zu denen kann ich mich nicht mehr zählen, nachdem ich Anfangs- und Schlussmonolog wie auch alle Zwischenansprachen mehrfach prophylaktisch durchgegangen bin. Und ich bin dankbar, dass das Fernsehen für heute abgesagt hat und lieber im Laufe der nächsten Woche drehen möchte. Wie lange ist das akademische Viertel nochmal? Dreißig Minuten? Was ist hier los? Und wer ist die Frau da am Mikrophon, die das Buch hochhält? Und warum blickt sie zu mir? Sollte ich lieber anstatt des Buches den Text über "Heavy Rain" vorlesen? Wäre das eine angemessene "Perfomance"? Dann entscheidet sich die Tagesform und neunzig Minuten vergehen, inklusive Sandwichpause. Bezüglich der "Perfomance"-Frage versuche ich zumindest, erstmalig in den Dialogen mit deutlich verstellten Stimmen zu lesen, so halt, wie ich glaube, dass die Lehrerin oder Neske deklamieren oder japsen könnten. Später noch interessante Gespräche, gerade über die Praxis der Adoption und wer eigentlich wen auswählt. Man lernt eben stets hinzu. Ich bekomme italienischen Perlwein geschenkt und entscheide mich für das Sandwich mit Farmerschinken, Gurke, Salat und Dijon-Mayonnaise.

Zwei Stunden sind es noch bis zur Zeitumstellung oder drei. So, wie man zählen möchte. Zeit ist sowieso eine Frage der persönlichen Einstellung. Auf dem Erfurter Altstadtfrühling ist Ruhe eingekehrt. Wer jetzt noch unterwegs ist, denkt bestimmt an alles, außer ans Umstellen der Uhr. Also an morgen. Ein Kind nimmt auf Wunsch seiner Eltern Platz auf einer Tigerente. Eine Gruppe Männer schleudert es johlend aus einer Straßenbahn. Vereinzelt liegen Sandhausenfans in Ecken und weinen. Im Fotofix werden alkoholische Mischgetränke auf dem Boden verkippt. Und bei Willy Brandt ans Fenster fährt eine meterlange weiße Limousine vor. Die ist nicht für mich. Aber der Farmerschinken.

Leipzig, 18./19. März, Buchmesse

Was meteorologisch Sinn ergibt, ist eine stilistische Kapitulationserklärung für den Anfang jedes Textes. Aber man muss mit dem Wetter beginnen, wenn man diese Tage beschreiben will. Der Frühling kommt, weil Buchmesse in Leipzig ist. Oder umgedreht. Klar ist jedenfalls, dass alle im Vorfeld gehegten Bekleidungsabsichten mit dem ersten Schritt aus der Bahn hinfällig werden. Das schwarze Shirt, das darüber gezogene helle Hemd, der darüber gezogene Rautenpullover mit V-Ausschnitt, das darüber gezogene legere Sacko, der schwere Mantel, der dicke Schal, die norwegische Bommelmütze, das übergroße Kassenbrillengestell — man sollte alles ablegen angesichts der Sonne. Aber man kann nicht, weil: ist ja Buchmesse.

Der erste Abend, die L3, die Lange Leipziger Lesenacht, findet in der Moritzbastei statt. Die Moritzbastei ist ein gigantischer Ameisenbau, ein Wimmelbild, in dem sich viele interessante Details entdecken ließen, wenn Zeit dafür wäre. Aber es fällt hauptsächlich die eine Stelle im Oberkeller auf, an der besonderes Licht die Augen aller Anwesenden in Katzenaugen verwandelt. Eine wunderbare Metapher, viel besser als Frühling und so wunderbar, dass man sich darin solange suhlt, bis die eigene Lesung beginnt. Vorher liest noch Ulrike Almut Sandig mit so betörender Stimme, dass alle Anwesenden andächtig schweigen, die Bionade von sich schieben, ihre Hände auf den Tischen verschränken und die Köpfe darauf betten, um zu lauschen, nur dieser eine Typ mit Bart am Tisch nebenan nicht, der stöhnt und ächzt und ist "richtig genervt", aber anstatt zu gehen, erzählt er den Kollegen etwas über das Sado-Maso-Buch, welches ihn kürzlich so begeistert hat.

Drei Autoren, eine Stunde Zeit. Im Schwalbennest. Die dritte Erwähnung eines Tieres innerhalb weniger Sätze. Es bleiben wieder zwanzig Minuten, die ewig elenden zwanzig Minuten, weder Fisch noch Fleisch, um in der bisherigen Sprache zu bleiben. Von der Raucherterrasse ziehen Gesprächsfetzen und Rauchschwaden ins Schwalbennest, denn die oberen gekippten Fenster lassen sich nicht schließen. Erst später werden Schalter entdeckt und betätigt und die Stille passt dann gut zu den stillen Textstellen, die ich mich zu lesen entschieden habe. Meine Bionade stelle ich auf dem Bühnenboden ab, während der Moderator auf die Postkarten hinweist und auf eine Anomalie auf diesen Karten. Es ist immer schön, wenn man nicht sofort anfängt zu lesen, sondern auch mal andere Sachen sagen und auf Anomalien, besonders unerwartete, Bezug nehmen kann. In der L3 fliegt man vorbei, landet manchmal und das ist okay, dafür sind solche Veranstaltungen gemacht. Und wahrscheinlich ist hier nichts mehr Fremdkörper als ruhig und still. Auch wenn die oberen Fenster geschlossen sind, öffnen sich die Türen ständig und man fluktuiert raus und rein, ein Nullsummenspiel, aber ein schönes. Dann ist die Veranstaltung Geschichte und die restlichen Wertmarken werden auf den Kopf gehauen oder verschenkt.

Nahverkehr ist eine der besten Erfindungen der Neuzeit. Man wird transportiert und informiert. Blaue Cabrios auf dem Stadtring zum Beispiel tragen in diesem Jahr keine Rammstein- oder Evanescence-Aufkleber mehr an die Stoßstange, sondern schwarze Unheilig-Sticker. In der Bahn wiederum wird auf einem Bildschirm für diesen Samstag 20 Uhr eingeladen. Zur Klärwerksbesichtigung. Was gut so ist. Denn angesichts der Zahlen (1 Nominierungsskandal, 1500 lesende Autoren, 2071 Aussteller aus 39 Ländern, 156000 Besucher) entgeht einem leicht einiges, zum Beispiel, dass sich das Leben eigentlich nicht allzusehr darum schert, was Bücher sind, anders jedenfalls, als Literaturbeilagen großer Zeitschriften das suggerieren. Wie auch Gespräche hier, da wird jeder selbst Figur in einem titanischen Roman, der den Literaturbetrieb bestechend seziert, den einen Roman, welchen jeder Autor einmal schreiben muss.

Zweimal menschliche Towelies gleich am Eingang. Deef Pirmasens, der vor dem Blauen Sofa twittert. Ansonsten auch Menschen, die auch ohne Verkleidung wie einem Cosplay entsprungen scheinen. An der Leseinsel Religion esse ich ein Mettbrötchen, dort ist Platz zum Sitzen. Wenn man läuft, läuft man immer in einem Pulk. Gerade unter anderem auf eine Hostess zu. Und sie steuert mich zielgerichtet an, streckt mir zwei schmale Heftchen entgegen und fragt, ob ich Interesse an erotischen Erzählungen hätte und zwei Leseproben mitnehmen möchte. Fünf Minuten später, eine Halle weiter, hält mich ein Standbetreuer eines geheimnisvollen Rollenspiels an und fragt, ob ich schon über 18 sei. In diesem Fall könne er mir etwas zeigen. Beide Begegnungen fasse ich als Kompliment auf. Wie auch Halle 2 ein einziges Kompliment ist.

Das ist ja immer eines der ersten drei Dinge, die man über die Buchmesse in Leipzig sagt. Man sagt "Manga" und manche fügen oft noch "Mädchen" hinzu. Wie Benjamin von Stuckrad-Barre. Aber hier ist natürlich nicht nur Manga. Sondern Cosplay und Rollenspiel und Steampunk und Anime, lauter Begriffe, die zu googeln es sich lohnen könnte. Jedes Kostüm lässt eine Geschichte im Kopf entstehen … Nein. Besser. Jedes Kostüm ist Ausdruck einer Sehnsucht. Die von mehr erzählt als Alkohol trinken und Menschen des anderen Geschlechts kennenzulernen. Allein deshalb schlägt Halle 2 jede Form von Karneval zweistellig.

Am Abend eine zweite Lesung, die nicht in Verbindung mit dem Roman steht. Und angenehm ist, weil alte Bekannte und ein Text, den ich zum letzten Mal im Sommer las und der deshalb fast ungelesen wirkt beim Vorlesen und ich das Gefühl habe, dass dies auch anderen so scheint. Dann die Nacht, die Lichter. Vor einem Buchladen, in dem ein überlebensgroßes Bild von Clemens Meyer hängt, drängen sich Menschen. Das muss komisch sein, wenn man durch die eigene Stadt geht und sich so überlebensgroß sieht. Ob man dann Umwege macht, um sich nicht zu sehen? Oder gerade extra daran vorbei? Das sind Fragen, die sich auf absehbare Zeit nicht stellen, jedenfalls heute nicht mehr in der Hauptpost am Augustusplatz, wo alle jung sind, besonders die Verlage, weshalb die DJs nur Musik spielen, die älter als dreißig Jahre ist. Und Michael Jackson.

Köln, 12. Februar, 1Live Klubbing

Wenn man aus einer Gegend stammt, in der Karneval nur als urbane Legende existiert und zudem Fasching heißt, geht man mit bestimmten Erwartungen an eine Fahrt nach Köln drei Tage vor Rosenmontag. Im Vorfeld entstanden längere Pausen, wenn ich Bekannte dort fragte, ob denn die Berichte übertrieben seien, bevor als Antwort kam: Ganz so schlimm ist es auch nicht. Das "so" hat dabei so viele o's wie ein Googol Nullen.

Dabei fängt die Fahrt farblos an. Denn außerhalb des Zugfensters ist alles schneeweiß. Im Prinzip ändert sich das genau dann, als der ICE im Hauptbahnhof einfährt. Aus farblos wird bunt; Flecken von Giraffenschminke, rote Marienkäferpunkte, Kätzchenohren aus Plüsch, Sieben-Zwerge-Gruppen mit DIE TRÖTE für 3 Euro, Männer wie Gießkannen verkleidet und Frauen mit Afros und … dann merke ich auch schon, dass es wenig Sinn ergibt, etwas beschreiben zu wollen das für viele einmal im Jahr Alltag ist und für alle anderen unverständlich. Das soll es auch bleiben.

Jede Lesung ist ja anders und diese besonders. Weil sie noch Interview ist und FreitagAusgehAbendTanzMusik bietet und deshalb im Radio übertragen wird. 1Live heißt der Sender. Im Vorfeld waren es Vorfreude und Panik, die sich gegenseitig nie die Waage hielten, denn Panik hielt sich immer alle Optionen offen. Denn klar ist: In Interviews können Fragen kommen. Und diese Fragen könnten zu einem Blackout meinerseits führen. Dass also plötzlich alle Gedanken verschwinden und nur ein schwarzer Punkt durch mein Gehirn irrt und ich verzweifelt versuche ihn zu erwischen, so wie eine Gottesanbeterin irrsinnig auf einem Computerbildschirm einem Mauszeiger nachjagt, solange, bis der Moderator gnädigerweise die nächste Frage stellt, immer im Bewusstsein: Stille ist der Tod des Radios.

Viel schlimmer als keine Antwort zu geben wäre allerdings eine schlimme Antwort zu geben, eine Antwort, die so unglaublich blamabel, banal und beleidigend wäre, eine Antwort, die alles negiert, was man ist und bisher gesagt/geschrieben hat. Früher wäre das okay gewesen. Im Radio eine solche Antwort zu geben. Aber dann kam Internet und damit Podcast und somit wird diese eine Stunde an einem Karnevalsfreitag in Köln für alle Zeiten auf der entsprechenden Homepage verfügbar und abrufbar sein. Eine Form von Unsterblichkeit, nach der sich niemand sehnt. Im schlimmsten Fall natürlich. Im besten Fall werde ich heute eloquent und gleichzeitig unterhaltsam einen Einblick in das große Wunderwerk Debüt geben.

Vorher frage ich noch, ob sich Ironie per Radio überträgt. Es wird genickt. Und mir fällt auf, dass es noch nie so viele Vorhers zu einer Lesung gab. Vorher gab es ein Vorgespräch, das im Radio gesendet wurde. Ein Vorabinterview, zu dem vorher eine Rezension auf der Radiohomepage erschien. Vorabexemplare wurden verschickt und — das ist nicht immer so — auch gelesen. Eine unglaubliche Maschinerie wurde für die eine Radiostunde "Der Schlaf und das Flüstern" in Gang gesetzt, viele Arbeitsstunden investiert, gefühlt kennen nun mindestens alle Redakteure des westdeutschen Rundfunks Pola und Janek. Was wunderschön ist. Und den Druck nicht gerade mindert. Hier und heute muss ich wirklich abliefern.

Kaum allerdings in den Glasbauten des Mediaparks angelangt, verabschiedet sich dieser Zwang. Panik übrigens auch. Jedenfalls zu großen Teilen. Es kommt, nach Aufenthalt in der VIPLounge, zu einem live gesendeten Vorgespräch mit Mike Litt, dem Moderator des Klubbingabends. Hier gilt es sich diplomatisch auszudrücken, besonders bezüglich des Karnevals. Ich spreche von einer Kultur und erkläre Oberhof zu DER Thüringer Karnevalshochburg. Was im ersten Moment falsch scheint und später genauso falsch bleibt. Aber der Gedanke ist verlockend, dass vielleicht jemand das Vorgespräch hört und kurzentschlossen Köln verlässt, um nach Oberhof zu fahren, um dann in der Thüringer Karnevalshochburg Oberhof Karneval zu feiern.

Die kommende Stunde unterteilt sich in drei Drittel; ein Drittel gehört Klubmusik, ein Drittel Gespräch und ein Drittel vier Lesestellen. Die sind sekundengenau auf jeweils exakt fünf Minuten getaktet. Nach 45 Minuten ist klar, dass noch viel Zeit übrig ist. Weil exakt fünf Minuten in der Simulation niemals exakt fünf Minuten in der Wirklichkeit sind. Man liest einfach schneller, in diesem Fall doppelt so schnell wie beabsichtigt. Zuviel Zeit jedenfalls vorhanden, weshalb der letzte Auszug verlängert wird, was wirklich okay ist. Denn bis dahin ist alles wirklich okay, fast schon angenehm, weshalb ich meiner Begeisterung Ausdruck verleihe und das Wort "tatsächlich" in jedem Satz unterbringe. Nur die optimale Sitzposition ist nicht gefunden, aber im Radio ist das ja sowieso nicht zu sehen. Etwas nur ist bedauerlich: während des Lesens kämpft eine Gruppe Darth Vaders und Luke Skywalkers auf dem schneebedeckten Mediaparkgelände mit Lichtschwertern gegeneinander. Man müsste nur auf den Balkon gehen und schauen und vermutlich staunen. Aber ich auf dem Balkon während meiner Lesung wäre im Radio zu hören.

Später in der VIP- ounge und später an der Bar und später im Fahrstuhl nach unten. Der Entschluss ist, die Aufnahme zur Sendung hier zu verlinken, weil ich das Gefühl habe, nur ein Bruchteil von dem gesagt zu haben, was ich über das Buch sagen könnte. Aber dieser Bruchteil vielleicht doch repräsentativ stehen könnte für das Buch, wobei wie jederzeit die grundsätzliche Frage bleibt, wie repräsentativ überhaupt etwas sein kann. Aber Zufriedenheit hat dann doch Panik vernichtend geschlagen.

Deshalb darf uns ein karnevalsphober Taxifahrer zur Zülpicher Straße fahren. Interessanterweise ist es immer so: Wenn man Leute fragt und die Leute erklären, wie verkommen die Stadt zu bestimmten Anlässen ist, dann fügen sie immer hinzu, dass das an denen liegt, die von außerhalb kommen. Aus den umliegenden Orten. Und nicht an den Einheimischen. Niemals an den Einheimischen. An der Zülpicher Straße, angeblich einem Studentenviertel, kann man das dann beobachten. Gegen alle Fenster aller Lokale pressen sich Körper, die bemalt sind und betastet werden. So hört der Abend auf, aber nicht die Nacht.

Bochum, 29. November, Riff-Halle

Beginnen wir mit diesem Bild: Ein Stockentenschwarm bildet ein Muster auf dem Wasser einer Kläranlage. Die Kläranlage befindet sich direkt neben dem Rhein. Anhand der Wasserfarbe lässt sich kein Unterschied festmachen, aber ich vermute, es gibt einen. Weitere Bilder während der Zugfahrt: Friedhöfe neben Wohnwagenparks. Die Städtchen sehen noch mehr Playmobil aus. Alle Sandplätze werden Sonntagmittag von Männern benutzt. Auf dem Loreleyfelsen hängt die japanische und deutsche Flagge, die letztere auf Halbmast. Es wird gewunken. Ein Frachtschiff namens Sympathie zieht stromaufwärts vorbei. Und weil Brücken fehlen, wird schnell klar: Wer einmal auf der falschen Seite des Flusses steht, bleibt auch dort. Bald verschwindet das Wasser und verschiedene Städte mittelerfolgreicher Fußballklubs schmiegen sich an die Gleise.

Während die Schweiz das Christentum beschützt, wird eingecheckt. Und das ist tatsächlich einen eigenen Absatz wert. Denn hier in Bochum findet etwas statt, das nicht ganz die Bedeutung hat wie die erste selbstgekaufte Platte oder das erste Konzert, aber zumindest eine Liga darunter spielt: das erste Hotelzimmer auf dieser Lesereise. Was banal klingt, ist möglicherweise ein Meilenstein, weil: Hotelzimmer und Lesereisen gehören zusammen. Das kennt man aus Büchern, die Lesereisen von Autoren zum Thema haben. Es existieren eine Menge Legenden dazu, und auch wenn ich nicht das Bedürfnis habe, heute Teil einer zu werden, bin ich einigermaßen gespannt. Schließlich ist jedes Hotel einem System unterworfen, mit eigenen Regeln und Codes. Das Handtuch zu Boden zu werfen zählt zu den gängigen. Das Glas zum Zähneputzen im Waschbecken zerschellen zu lassen nicht. Ansonsten fehlt an einer Tür die Zimmernummer, was erstmal Panik auslöst, sich bald aber als mein Zimmer entpuppt. Es gibt eine Menge kostenpflichtiger Wlannetze in der nahen Umgebung und ich spüre den Drang, mich einzuloggen, wahrscheinlich ins Internet und schon vor der Lesung den Text über die Lesung zu veröffentlichen.

Die Zeit vergeht aber anders und plötzlich ist da das Bermudadreieck. In Bochum! Ein Komplex unterschiedlicher Restaurants, Bars oder Musikhallen, den, wie später bekannt wird, Bochumer meiden, während das Umland an den Wochenenden hierher kommt. Das Umland heißt Sauerland. Heute findet in der Riffhalle die Abschlussveranstaltung des Literaturfestivals Macondo statt, der traditionelle Debütantenball. Und mir fällt zum ersten Mal bewusst auf, was ich bin: ein Debütant. Endlich eine Schublade, die sich richtig anfühlt.

Drei Autoren werden lesen, ich beginne. Den Barhocker so nah wie möglich an den Lesetisch zu schieben und dabei versuchen, ein Mindestmaß an Ästhetik zu bewahren. Kurzentschlossen entscheide ich mich für andere Textpassagen als ursprünglich geplant. Das ist nicht zwingend rational, aber wenn man einmal angefangen hat zu lesen, gibt es keine Chance zur Umkehr mehr. Ich lese also einige Absätze bis etwas Poppiges an meine Ohren dringt. Hier in der rotbeleuchtenden Riffhalle ist alles verstärkt. Mehrere große Lautsprecher, aus denen meine Stimmte kommt. Und Musik. Nicht gerade laut, sie könnte auch von einem vorbeifahrenden Auto stammen. Aber Musik. Zu kurz, um zu irritieren. Sie verstummt. Also jage ich weitere Passagen durch das Mikrophon. Dann kommt die Musik zurück.

Diesmal wird klar: Sie ist im Raum. Wird eingespielt, während ich lese. Und ich überlege, wie eine angemessene Reaktion aussehen könnte. Natürlich könnte ich aufhören zu lesen und beleidigt schweigen. Oder — und das wäre sicher Auftritt, nach dem man sich sehnen könnte - das Wasserglas wie letztens das Zahnputzglas zerstören, den Barhocker wutentbrannt von sich treten, das Buch in den Publikumsraum schleudern und dann, nach kaum einem Fünftel der Lesung, in der Hotelbar verschwinden, sich dort mit Cocktails verschanzen, um danach das Hotelzimmer gründlich auseinanderzunehmen. Das wäre eine schöne Legende. Oder schön peinlich. Aber das bedingt sich ja meistens sowieso. Stattdessen versuche ich während des Lesens aufzuschauen und möglichst intensiv die Lautsprecher anzustarren: das ist nicht subtil oder konsequent, das ist instinktiv.

Und mir fällt ein, was das soll: Teil des Debütantenballs ist der DJ, der nach jedem Autor ein Lied spielt, welches er für passend zum davor gehörten Text hält. Eine Tradition, die mich, als ich zuvor backstage davon höre, in Ekstase versetzt. Und die Furcht, der DJ könnte "Ich+Ich" auswählen. Daran erinnere ich mich jetzt. Und ich setze die Puzzleteilchen zusammen und kombiniere, dass der DJ gerade seine Musiksammlung durchgeht und vermutlich einen Tonkanal zuviel aufgezogen hat. Unabsichtlich, wie ich hoffe. Trotzdem versuche ich, das Lied zu erraten. Es ist deutsch, soviel ist klar, und ist es nicht "Ich+ Ich", sondern eher schnell und … Die Ärzte müssen das sein. Aber kenne ich die Melodie? Und von welchem Album stammt es? Jedenfalls eine Menge Stoff zum Nachdenken. Außerdem muss ich ja gerade noch vorlesen. Da bin ich ganz froh, dass meine Blicke wirken und die Musik endgültig verschwindet.

Nachdem das letzte Wort von mir gesprochen ist, spielt der DJ das Lied, welches er als musikalisches Äquivalent zum Roman empfindet. Es ist "Golden Years" von David Bowie. Das ist auf jeden Fall mehr als okay und bezieht sich auf das Kapitel "Das goldene Zeitalter". Danach spreche ich mit dem DJ. Der sagt, die Ärzte wären Farin Urlaub gewesen und der härteste Konkurrent zu Bowie "Sunday Bloody Sunday". Was sicherlich eine interessante Wahl gewesen wäre. Also interessant im Sinne wie man sagt, Sushi schmeckt interessant. Und er erzählt eine Menge über seine Arbeit, und das ist interessant, aber interessant-interessant.

Er spricht davon, dass er gern auf den Geburtstagen von 50-Jährigen auflegt, weil es da einen klaren zeitlichen Ablaufplan gibt. Dass 60- und 70. Jubiläen schwieriger wären, weil die Gäste dort keine Lieder verlangten, sondern einen Foxtrott oder eine Rumba. Davon, dass ihn unzufriedene Männer mit Schlägen bedrohten, weil er nicht den Wunsch ihrer Freundinnen spielte. Wie er sich standhaft weigert, DJ Ötzi oder Tim Toupet aufzulegen. Was Händehochsongs sind. Wie Gäste ihre Ipods zu ihm reichen. Oder sagen "Ey, ich bin auch DJ, ich kenn das, spiel mal Scooter". Wir sprechen natürlich über Michael Jackson und dass er in den Wochen nach dessen Tod bis zu viermal am Abend dessen Lieder auflegte. Über seinen Hass auf "Like a Prayer". Und Fettes Brot als Tanzflächenkiller. Dass Twist bei ganz Jungen und Alten funktioniert. Und dass die 80er ihren Glanz verloren haben. Dr. Alban, Haddaway und Snap! ziehen aktuell und das führt zu der Erkenntnis: die 90er sind die 80er der späten 00er Jahre.

Das sind eine Menge guter Informationen. Damit geht es zurück ins Hotelzimmer, ohne Aufriss, ohne Spektakel spuckt uns das Bermudadreieck wieder aus und schon erscheint alles ein wenig selbstverständlich und ich freue mich, am nächsten Morgen das benutzte Handtuch auf den Boden des Badezimmers werfen zu können.

Köln, 19. November, Raketenclub, 20.11. Café Duddel

Es ist ja auch immer die Frage, welchen Ton man anschlägt. Denn es bestünde ja die Möglichkeit, alles zu ironisieren. Oder sehr abgeklärt zu beschreiben. Oder kühl zu sezieren. Oder gewichtig zu deuten. Und sicher auch selbstgefällig zu reflektieren. Hier soll ein Ton probiert werden, weil es vielleicht keine andere legitime Art gibt, sich einem entscheidenden Thema der Reise zu nähern. Dazu wird ein Wort fallen, welches zwei Absätze weiter wieder auftauchen wird. Und am Ende. Das Wort heißt Pathos.

Denn man muss auch mal über Freunde schreiben. Weil das ja schön ist: durchs Land fahren und in Städte, in denen Menschen wohnen, mit denen man oft einige Zeit verbracht hat. Sie dann zu sehen und zu sprechen, ist besser als Facebook und die einzige Statusmeldung, die dabei zählt, ist die Erkenntnis, dass man so etwas viel zu selten macht. Da spielt das Real Life seine ganzen Stärken aus.

Wenn man zu ihnen in die Wohnungen kommt und die Couch schon ausgeklappt ist und ein Handtuch bereitliegt und man spricht und sich für den Abend verabredet, an dem man zufällig auch noch liest. Und dann das schlechte Gewissen, wenn sie vielleicht doch das Buch kaufen, obwohl man weiß, dass man es ihnen eigentlich schenken müsste, das aber erst in der dritten Auflage geht. Und dann ist es ja meistens zu spät.

Freunde rufen auch in vielen verschiedenen Buchhandlungen an und bestellen das Buch, ohne es zu kaufen, in der Hoffnung, das Geschäft würde es so auf den Stapel neben der Kasse legen. Freunde gehen in andere Großketten und fragen mit tiefer Stimme, ob denn das "überall gelobte Debüt dieses spannenden Jungautoren" vorhanden sei. Freunde sitzen in der ersten Reihe und schauen so, dass man sie während des Lesens gern und oft anblickt, Freunde bleiben danach länger und man fährt auf ihre Kosten U-Bahn. Freunde. Pathetisch gesprochen: das große Plusplus dieser Reise.

Im ICE von Berlin nach Köln scheucht eine Dame einen Bettler erst aus dem Abteil, dann schwärzt sie ihn beim Schaffner an. Der Schaffner sagt, für ihn sei es wichtig, dass am Ende der Reise all seine Gäste noch ihre Wertgegenstände besäßen. Ansonsten reicht die Fahrzeit aus, etwa dreimal "13" zu hören und "Tender" fünfmal. In der Straßenbahn später "Am Ende denk ich immer nur an dich" und was das bedeutet, können die Nahesitzenden kaum ermessen.

Am Abend findet die erste von zwei Lesungen in Köln statt. Auftakt ist im Raketenklub, eine Lesebühne, fünf Autoren, Donald-Duck-Sonette werden vorgestellt und ABBA eingespielt. Ein Mikrofon gibt es. Es hängt mit drei dünnen Tesafilmstreifen befestigt am Mikrofonständer und könnte jede Sekunde, garantiert gerade an der dramatischsten Stelle im Text, auf den Tisch und von da auf Boden krachen. Das wäre dann Punk, der sich ganz gut an einem Ort wie diesen machen würde. Aber es passiert nichts, nur bei der Goldfischszene, und ich denke, "Die Goldfischszene funktioniert ja immer." Im Klub wird es kalt, was seltsam ist, weil es draußen warm ist, man sagt "Zu warm für diese Jahreszeit", jedenfalls steht das auf den Infoschirmen, die in den U-Bahnen hängen, aber nicht in den Kölner U-Bahnen. Das war Berlin. In Köln gibt es nur eine Regel die U-Bahn betreffend: Je später die Nachtubahn, desto höher die Dichte von Erbrochenenlachen. Das ist nicht schön, aber das ist Köln.

Am Freitag die zweite Lesung. Das Café Duddel trägt einen Katzennamen. Im Leseraum richten wir Sitzreihen und Bühne so her, wie wir das als passend empfinden und müssen dafür nicht viel ändern. Nirgends ist Tesa zu entdecken, nur Nägel in den Wänden. Dann ist auch schon die nächste Kickerpartie gegen den Verlag verloren und auf den Stühlen nehmen Menschen Platz. Und manchmal weiß man schon mit einem ersten Blick auf sie, ob ein Abend wunderbar werden wird. Was weniger an einem selbst liegt oder der Art, wie man liest, sondern vielmehr an allen, die diese achtzig Minuten mit Pola und Janek verbringen. Im ersten Kapitel schon Lacher. Also eigentlich keine Lacher, sondern eher ein Art kollektives Wiedererkennen in ausgewählten Textstellen, ein einträchtiges Bestätigen, dass die im Text verwendeten Metaphern nicht allzu schief sind. So interpretiere ich die Geräusche und ich bin erfreut und erstaunt und versuche nach Sätzen kleine Pausen zu lassen, um so den Geräuschen Raum zu geben, damit sie ausklingen können, damit der nächste Satz sie nicht zu brutal abschneidet. Und diesmal ist es nicht die Goldfischszene, diesmal ist es … am liebsten würde ich ja schreiben: so gut wie alle Ausschnitte, aber das wäre vermessen.

Aus der ersten Reihe kommt ein Zwischenruf, als ich auf den Umschlag und Lange Sömme verweise. "Ah, da liegen also sonnengebräunte Frauen im Gras" wird gerufen und das ist freundlich gemeint, was vielleicht alle so empfinden, denn es wird gelacht. Wenn es doch mehr Möglichkeiten gäbe, Lachen noch anders auszudrücken als Lachen zu schreiben. Später ist Pause und der Zwischenrufer verlässt den Leseraum, um nicht mehr zurückzukommen. Ich denke, dass man damit leben müsste und es ist okay ist, wenn man Zuhörer wegliest. Dann erfahre ich jedoch, dass er sich im Gehen das Buch mitgenommen hat. Und sagte, dass er den zweiten Teil der Lesung nicht hören will, weil er fürchtet, zu viel verraten zu bekommen und er die Geschichte lieber selbst lesen möchte. Das ist ein Moment, in dem auch Pathos darin scheitert, Hochstimmung zu beschrieben.

Im zweiten Block wird Essen bestellt und auf Bierbänken abgestellt und wird kalt, weil zugehört wird. Und als ich dann am Ende, nach der möglicherweise fragilsten Stelle im Buch sage, wie sehr mich die Lesung gefreut hat, dann ist das eine freche Untertreibung. Vor dem Café ist die Nacht längst über Köln gekommen. Sobald es hell wird, öffnen die Weihnachtsmärkte, in den Bäumen hängen schon Sterne. Ich weiß, dass ich frühestens in fünf Stunden einschlafen kann. Nico spricht ein Wort aus, von dem ich glaube, dass es meinen / unseren Gefühlszustand vollkommen einfängt: beseelt. Da ist er wieder, der Pathos und es gibt keinen Grund, ihm das vorzuwerfen.

Berlin, 18. November, Yumabar

Berlin ist ja immer wie GTA spielen. Eine Spielwelt, in der alles möglich ist. Nach dem Intro tritt man vor den Bahnhof und eine gesamte Stadt steht zur freien Verfügung. Jeder kann gehen, wohin er will, und tun, was er möchte. Manchmal hat das Konsequenzen, meistens nicht. Und diese Vielfalt der Möglichkeiten kann zu einer Lähmung führen. Weil: es gibt ja kein Ziel, nur eine rudimentäre Hauptquest, die aber sowieso nur den üblichen Schemata folgt. Dabei sind die Nebenmissionen der eigentliche Spaß an der Sache. Die Frage ist nur, wie man sie entdeckt. Vielleicht sollte man einfach nach Berlin Buch fahren und dort suchen oder hoffen, ein großer TV-Sender macht vor dem Brandenburger Tor eine Straßenumfrage zur Volkskrankheit Depression und man kriegt so ein paar Erfahrungspunkte gutgeschrieben.

Das Handbuch zu alldem ist schmal, die wichtigsten Bedienfunktionen passen auf eine Seite mit großer Schrift. Das fängt schon damit an, dass man sich im öffentlichen Nahverkehr einer fremden Stadt wie ein gerade aus dem Koma Erwachter fühlt. Während die Masse die grundsätzlichen Funktionen des Lebens hier einwandfrei beherrscht und traumwandlerisch die Linien nutzt, muss ich an kleingedruckten Übersichtplänen die korrekten Richtungen entziffern und entscheiden, ob die Endhaltestelle Pankow, Spandau oder doch der Gesundbrunnen sein soll. Natürlich lache ich schon am nächsten Tag über diese gestrige Behäbigkeit, aber gerade ist gestern und damit jetzt und damit dauert alles viel länger, als vielleicht mal geplant.

Schließlich dann in der Sonnenallee. Die wird ja, hört man, inzwischen auch loboisiert. Zwischen den Dönerbuden sieht man schon die Wlanwellen und das wirkt so ursprünglich wie, sagen wir mal, die Durchsagen auf Bahnsteigen, die auf den nächtlichen Pendelverkehr hinweisen. In der Yumabar soll "Read On My Dear" stattfinden. Eine neue Lesereihe, organisiert von Spreeblick. Drei Autoren, die zuerst aus "Schau gen Horizont und lausche" lesen, einer Anthologie über Städte, die auch beim Verlag "asphalt&anders" erschienen ist. Danach dann weitere eigene Sachen. Frédéric wird moderieren, er kümmert sich sehr nett um uns und trägt einen Hut, der später herumgehen wird. Der Hut. Die große unbekannte montetäre Variable, zu deren Vor- und Nachteilen man ganze Bücher vollschreiben könnte.

Heute wird es mal wieder unerwartet werden. Denn diesen Rahmen gab es so noch nie für den Roman; noch komplizierter ist es, die vermeintlich geeignetsten Textstellen auszuwählen, weil so ein bisschen Geruch von Slam liegt ja schon in der Luft, hier in der Yumabar. Vielleicht tut man Großstädten und den Bars dort Unrecht mit dieser Bemerkung, aber es fühlt sich im Moment so an, und ob das gut ist, kann ich so jedenfalls nicht entscheiden. Ob ich Nebelbomben werfen soll und dann funkensprühenden Teslastrom durch den Raum jagen müsste, damit alle gebannt sind und nicht bemerken, dass die beiden Kapitel, die ich lese, eigentlich keine Pointen enthalten. Da sind sie wieder, die Möglichkeiten, aber letztlich sitze ich dann doch am Mikrofon und lese, wie ich es für richtig halte in genau diesem Moment.

Und dann ist da noch Rauch. Extra Ventilatoren wurden eingebaut, weil Zuhörer von der vorherigen Lesung in den Kommentaren auf www.spreeblick.de darauf hinwiesen. Rauch weil Nikotin und da werde ich sofort leicht panisch. Die gesamte letzte Woche laufe ich schon mit einem Schal um meinen Hals, damit er nicht kratzt und mich im Stich lässt. Sogar geimpft wurde ich, um jedes Risiko auszuschließen und die drei Lesungen am Stück nicht zu gefährden. Und jetzt Rauch. Rotes Licht legt sich in die Schwaden und die gesprochenen Worte nehmen Form an. Das ist tatsächlich so schön wie es sich anhört. Aber eben nur bedingt in der Kehle. Das Wasserglas ist also schnell getrunken und Wasser bindet die Schadstoffe und ich denke, wie bescheuert eigentlich, dass ich daran denke und nicht, wie ich besser lesen könnte.

In der Couch versunken lauschen wir den Texten von allen. Und ich denke an das Wort "ficken". Ich denke an die TV-Serien "Curb Your Enthusiasm" und vor allem an "Deadwood", in denen die englische Variante eine tragende Funktion besitzt. Und ich überlege, warum ich das Wort so selten, vielleicht auch noch nie, in meinen Texten benutzt habe. Ich höre zu und lasse die Gedanken schweifen und denke, dass man das Wort sparsam nutzen sollte. Das ist ein Ratschlag und ich überlege, warum ich ihn geben will und ich denke wieder an die offene Spielwelt, in der alles möglich ist und dass dieses Wort das Äquivalent dazu ist, weil es für alles stehen kann, es ist ein Füllwort so wie "also" oder "vielleicht" und weil es für alles stehen kann, steht es wiederum für nichts und dann steht da einfach nur ein Wort im Raum und schreit "Schaut mich an. Ich bin ein ganz schön krasses Wort, schaut mich an, denn ich trage eine digge Hose. Alder."

Allerdings, während Rauch das Wort noch umschmeichelt, färbt es dennoch auf mich ab und ich lese die heiklen drei Sätze auf Seite 65, zweiter Absatz, zum ersten Mal überhaupt, weil ich in dem Moment glaube, dass es richtig so wäre. Und tatsächlich gibt es Reaktionen, eine Art unsicheres Lachen, was mich sofort veranlasst, diese Stelle live zu kommentieren, was auch ein Lachen hervorruft und ich mich frage, ob das denn überhaupt meine Absicht sein sollte. Klar, in dem Augenblick funktioniert das. Aber hinterher? Reduziert man das Gehörte nur auf die eine Stelle (die nicht erfunden ist, sondern auf Tatsachen basiert), obwohl die Stelle kaum repräsentativ ist für den Roman? Wieder so eine Frage.

Darüber habe ich viel Zeit zum Nachdenken, weil in der Nacht Pendelverkehr ist und jede Haltestelle zur Umsteigehaltestelle wird, worauf uns die Stimmen auf den Bahnsteigen mit einer freundlichen 1:00-Nachts-Stimme hinweisen.

Weimar, 29. Oktober, Eckermann-Buchhandlung

Aber interessant. Da fällt schon mal die Hälfte weg von dem, was man schreiben könnte. Weil man in Weimar liest. Quasi Haustür. Einmal kurz raus und dann schon da. So bleiben die staunenden Beobachtungen über eine Stadt aus, all die ethnologischen Beschreibungen von vermeintlich Skurrilem. Und auch Anfahrt. Da ist Alltag, da ist Lesung, da ist wieder Alltag. Innerhalb von zwei Stunden kann man so alles abhandeln. Das ist nicht verkehrt, aber auch nicht spannend.

Vermutlich. Denn dann sind knapp zehn Minuten bis zum Lesungsbeginn und knapp fünf Menschen sind schon anwesend, mich eingerechnet. Und einer sagt, hm, in Weimar, da kommen die Bürger immer schon mindestens eine Stunde vorher, um auch ganz sicher zu gehen und einer sagt, naja, aber in Weimar zählt das akademische Viertel doppelt, quasi Universitätsstadt. Und einer will schon die Kasse wieder wegschließen und ich sage vielleicht mal abwarten. Dabei ist das alles schön. Ein großes Buchgeschäft, zwei Etagen, oben nur antiquarisch. Hier bunte Stühle, dort eine integrierte Bar, an der auch Sekt ausgeschenkt wird und in der Mitte ein Tisch, auf dem eine Glaskaraffe mit stillem Wasser steht. Allein schon das Wort. Glaskaraffe. Genauso so bezaubernd wie vor zwei Tagen noch Glasfassade.

Die Spannung also steigt. Ich fotografiere mich noch mal im Schaufenster neben Herta Müller und merke, dass so langsam eine Herta-Müller-Besessenheit Besitz von mir ergreift. Wäre "Der Schlaf und das Flüstern" 2004 erschienen, dann wäre es eine Elfriede-Jelinek-Obsession und 1999 eine Günter-Grass-Manie. Da bin ich eigentlich schon ganz zufrieden so. Als ich wieder oben bin im Antiquarischen (und auf den Weg dahin noch super originell ein Buch über Goethe UND Schiller gekauft habe), hat das akademische Viertel gesiegt. Aber wie. Sehr schön. Menschen. Vor denen macht es immer noch am meisten Spaß zu lesen.

Dann Eröffnungsrede. Das Buch hält posthum den MDR-Preis und ich die Möglichkeit, meine Idealvorstellung einer gelungenen Dramaturgie zu verwirklichen. Weil Perfektion. Jeder Satz handverlesen und jede Pause bedeutungsschwanger genug. Dreimal Lehrgeld bezahlt, damit hier alles Optimum ineinandergreift. Denn Perfektion ist nicht schlecht in der Stadt, die man als Lebensmittelpunkt bezeichnen würde. Morgen steht man den Gästen von heute zufällig an der Supermarktkasse gegenüber und da möchte man nicht gefragt werden, warum die Lesung am Tag zuvor so seltsam war, warum ich jeden zweiten Satz verhaspelt hätte und ich die Glaskaraffe tölpelhaft vom Tisch fegte oder ich plötzlich in Ohnmacht gefallen war und dann zuckend am Boden lag. In Heidelberg kann ich mich folgenlos so verhalten oder in Schwerin. Aber nicht in Weimar. Deshalb Druck.

Und weil Druck vorher Training. Die Textstellen im Vorhinein lesen, gern auch in unterschiedlichen Reihenfolgen. Der Stimme versuchen ein eigenes Leben zu verleihen, im besten Fall das der Hauptfiguren. Aber Training tötet auch spontan. Deshalb kein Training seit Hamburg. Und diese Pause dazwischen, wenn auch nur zwei Tage, wirken wie Ferien. Man kommt zurück und die Wohnung sieht gleichzeitig vertraut wie auch angenehm überraschend fremd aus. Und Wohnung ist Text. Und der Text ist vor allem an der gemeinen Stelle mit dem Goldfisch wirkungsvoll. So etwas merkt man. Weil: selten sind alle Sinne so aufnahmefähig wie beim Vorlesen. Jede Kleinigkeit rast mit der Subtilität eines Güterzugs in das Nervensystem. Jedes Husten wird zu einem Orkan, jedes Kleiderrascheln zu einem Erdbeben. Und aus der Vielzahl der Beobachtungen leitet man dann die Zustimmung ab. Ordnet sie ein in die eigene, geheimgehaltene Skala, die Auskunft darüber gibt, ob ein Abend okay, nett, schön, toll, großartig, geht so, den Umständen entsprechend bewertet wird, später im Small Talk. Man wird ja auch immer gefragt. Wie es war. Zum Glück.

Jedenfalls der Goldfisch. Reaktionen, vereinzeltes Lachen sogar, obwohl die ausgewählten Textstellen keine Pointen enthalten. Fast bin ich sogar versucht, die heiklen drei Sätze auf Seite 65, zweiter Absatz zu lesen. Weil man trifft ja immer Entscheidungen. Beim Lesen. Lässt man den Abschnitt weg, fügt man dies hinzu, spricht man diesen Dialog mit besonderer Verve oder nimmt sich gerade zurück. Das ist ja spontan. Wenn das Training lang genug zurückliegt. Auch wenn ich das Gefühl habe, aus den Zeichen, die die Zuhörer mir senden, ablesen zu können, dass ich diese heiklen drei Sätze lesen könnte, entscheide ich mich dagegen, so wie wenn man auf der Autobahn 200 Kilometer die Stunde rast und in letzter Sekunde das Steuer herumreißt, um doch noch die Ausfahrt nach Sicherheitshausen zu nehmen. Aber okay. Muss ja noch mehr kommen können. Nichts ist langweiliger als Perfektion.

Dann Ende und Klatschen, das Buch wird eingeordnet und signiert. Man steht noch eine Zeitlang im Antiquarischen herum und verteilt Postkarten. Eine Freundin setzt, als gerade niemand hinschaut, die Glaskaraffe an den Mund und trinkt Ex stilles Wasser. Weil Brand. Schließlich Nacht.

So sind erstmal drei Wochen Romanlesepause. Drei andere Lesungen stehen aber zwischendurch an, ohne Roman. Aber Kurzgeschichte. Einerseits Freude anders lesen zu können. Andererseits auch ein Gefühl, so wie sich Fremdgehen anfühlen könnte. Der Autor als Verräter. Drei Wochen also und genügend Zeit, nochmal zwei Brennerbücher zu lesen.

Nächster Termin: 19.11.2009, Köln, Raketenklub

Hamburg, 27. Oktober, Cafe Mathilde

Man macht sich ja Gedanken. Über Hamburg zum Beispiel. Und plötzlich steht man selbst an den Landungsbrücken oder sitzt im Bus nach Bahrenfeld und was Lied war, wird plötzlich Hamburg. Staunend blickt man zu den Backsteinkontoren hinauf, die sich in den Glasfassaden spiegeln. In Hafencity sehen die frisch gepflanzten Bäume auf den Plätzen, die nach großen Entdeckern benannt sind, genauso aus, wie sich das die Praktikantinnen der Architekten so vorstellten, als sie das Modell von Hafencity optimierten. Die Menschen zwischen den Bäumen und Häusern und Superlativen sind dann lebendig gewordene Styroporfiguren. Bin also ich. In Kürze entsteht hier ein Viertel aus dem Nichts, das genauso viele Menschen beherbergen wird wie Weimar Einwohner hat. Da hat die Lobby der Glasfassadenindustrie exzellente Arbeit geleistet. Dass das Wort Glasfassaden allein im ersten Absatz schon zum dritten Mal auftaucht, ist kein Zufall, jedenfalls kein unbeabsichtigter.

Aber eigentlich geht es ja um etwas anderes. Selbstreflexion gehört nicht dazu. Dafür ist es noch zu früh. Warum sollten die Texte über die Lesung schon nach zwei erschienen Texten die Lesung beeinflussen? Und trotzdem werde ich auf das Mikrofon, den heimlichen Superstar des vorherigen Lesungsberichts, angesprochen und gefragt, ob es mein Lesen heute in Hamburg verändern wird, bzw. eben nicht verändern wird. Denn heute gibt es kein Mikrofon. Wie es meistens kein Mikrofon gibt und diese Information macht den vorherigen Text im Prinzip überflüssig. Aber ich beschließe, mich darüber zu freuen, dass die Texte gelesen werden und dass es eindeutig zu früh wäre, darauf in den Texten einzugehen.

Gelesen wird im Cafe Mathilde. Das ist das Gegenteil von Glasfassade, auch wenn man durch ein großes Schaufenster ins Innere blicken kann, auf Sessel und Stehlampen mit Preisschildern, Regale voller antiquarischer Bücher, nach denen Hände greifen, zu denen Menschen gehören, die heute der Lesung beiwohnen werden. Drei Getränke frei gibt es für mich, ich nehme einmal stilles Wasser, dann ist mein Körper zufrieden. Der Rest so lala. Denn ich weiß: Leben ist das, was passiert, während man andere Pläne macht.

Eigentlich ein schöner Spruch, der allerdings verliert, je öfter man ihn sagt und hört. Deshalb rangiert er bald irgendwo zwischen "Ein Tag ohne Lächeln ist ein verlorener Tag" und "Gib jedem Tag die Chance, der Schönste in deinem Leben zu werden ". Schade eigentlich, auch wenn diese Leben/Plan-Weisheit heute gut ins Konzept passt. Denn man macht sich ja Gedanken. Wie man eine Lesung gestaltet. Eine Stunde, welche Ausschnitte man liest und wann. In Hamburg möchte ich probieren und abweichen vom ursprünglichen, in Werdau schon verwirklichten Plan. Den Fokus verschieben, weniger erzählen, mehr lesen. Sechs Auszüge, die für ein Ganzes stehen sollen. Also eine Stunde gute Lesung. Dann aber die Information, nachdem ich die Information erhalten habe, dass mir drei Freigetränke zustehen: Schön wäre eine Lesung über 90 Minuten und gern mit Pause.

Das sorgsam erdachte Konstrukt namens Dramaturgie bricht in Sekundenschnelle zusammen und da ich sicher für vieles spontan zu haben bin außer Flexibilität, sehe ich erstmal ein Problem. Und laufe die nächste halbe Stunde eine Straße, die Pumpen oder Herrlichkeit heißen könnte, auf und vor allem ab. Ein Plan reift, gar nicht mal so spektakulär, aber ein Plan. Immerhin. Die Pause wird eingetaktet und ein zusätzlicher Ausschnitt ausgewählt, ausreichend, um mindestens auf 70 Minuten zu kommen. Mit der Pause erscheint das dann sowieso alles länger. Verspielt sich wahrscheinlich.

Nico begrüßt die Gäste und erwähnt die zeitgleich in der AOL-Arena lesende Herta Müller. Das ist gut. Immerhin ein Nobelpreisträger in der Stadt. Beim Lesen stelle ich erfreut fest, dass der Raum so still ist, das man jedes Geräusch hören würde, entstünde eines. Das übt einen schönen Druck auf die Zuhörer aus, sich nicht zu bewegen. Sondern sich zu konzentrieren. Dieses kleine bisschen Sadismus kann ich mir leisten denke ich. Eigentlich denke ich das nicht. Nur jetzt beim Schreiben. Aber beim Lesen liegt ein Hund in der Ecke, der wahlweise Marille oder Der Kaiser genannt wird, obwohl er eine Hündin ist. Jemand schmeißt ein Weinglas zu Boden, unbeabsichtigt, wie ich hoffe und später richtig vermute. Ansonsten alle sehr angenehm still außer mir und beim Klatschen.

Nur die Frau. Etwas älter, sympathisches Äußeres. Sitzt direkt vor meinem Lesetisch. Und verrenkt sich in ihrem Sessel, komplett geräuschlos übrigens. Mal hängt sie sich über die Lehne, mal verschränkt sie ihre Hände vor dem Gesicht, mal sinkt ihr Kopf gefährlich nahe dem Boden entgegen. Was ich davon halten soll, weiß ich nicht. Klar ist allerdings, dass es irritiert. Mich. Und ich bin auch froh, dass sie die Pause zum Verschwinden nutzt. Lieber ein leerer Sessel als ein Sessel mit dieser Frau.

Soviel zu Hamburg. Der Klang meiner Stimme füllte gefühlte drei Stunden Abendprogramm und ich bin erstmal sicher, dass ich so schnell so viel nicht wieder lesen werde / möchte. So ist jedenfalls der Plan. Jetzt muss ich lachen. Pläne.

Frankfurt, 15. Oktober, Frankfurter Kunstverein

Das könnte ein Text sein über empörende Backstage-Geschichten, skandalöse Offenbarungen und Ausrutscher von Prominenten. Das aber ist ein Text über die Magie der korrekten Mikrophonierung. Weil kaum etwas entscheidender ist auf einer Lesung: Die richtige Position des Lesenden zum Mikrofon. Es gibt ja nicht viel, auf das man in den Minuten der Lesung Einfluss üben kann. Die Textstellen sind gewählt, das Erklärende schon mehrmals gesagt, die Bedürfnisse des Publikums kann man sowieso nur ahnen. Deshalb macht es auch keinen Sinn, sie erfüllen zu wollen. Aber ich kann mich setzen. Und eine Körperhaltung finden, die mir bequem scheint. Mich so drehen, dass ich nicht verspanne. Das Mikrofon befindet in der Mehrzahl der Fälle direkt vor mir. Dort würde ich auch gewohnheitsmäßig das Buch halten, aus dem ich lese.

Also muss ich einen Kompromiss finden; einerseits so sitzen, dass meine Stimme die Membranen des Mikrophons erreicht, andererseits mich so drehen, dass das Buch nicht ans Mikrophon stößt und ich dennoch die Worte im Text erkennen kann. Meistens versucht man das ja vor der Veranstaltung zu testen. Das klappt öfter als man denkt, aber nicht immer. Nicht immer ist an diesem Abend in Frankfurt. Gelesen wird im Kunstverein am Römer, Veranstalter sind die Jungen Verlagsmenschen, die anschließend einen Film über sich zeigen.

Zuerst stellen Nico und Stefan den Verlag vor, danach mir Fragen. Das ist okay, denke ich, das ist okay so mit dem Mikrofon und dann beginne ich zu lesen und merke, dass es nicht ganz okay ist. Denn ich muss mich leicht seitlich setzen, um die Kollision Mikrophon / Buch zu vermeiden und ich merke (endlich) eine gewisse Anspannung und wie ich mehr über die ideale Position nachdenke als über den Text, den ich lese und den ich deshalb nur irgendwie lese, aber sicher nicht so, wie ich es sollte. Diesmal ist nur Zeit für zwei längere Passagen, also muss noch mehr zusammengefasst werden als vor einer Woche. Ob sich darin das Buch wiederfindet, kann ich nur ahnen, ob das, was ich sage / lese / repräsentiere angenommen wird, ist eine der Fragen, die auch Applaus nicht beantwortet. Andererseits ist das egal, weil sich der Abend noch nett gestaltet, was hauptsächlich an Menschen liegt. Und das ist ja eine Aussage, die man nicht immer treffen kann.

Am nächsten Tag schlägt eine Erkenntnis das eigene Selbstbewusstsein zu Boden: Wenn man ein Buch geschrieben hat, gibt es nichts Deprimierendes als die Buchmesse zu besuchen. "Wenn du einer von Hundert sein willst, bist du auf der Messe nur einer von Tausend" haben Tomte früher gesungen. Alles, was man schreiben kann, ist geschrieben und liegt auf hohen Stapeln bereit. Und alles ist so zufällig. Durch welche Gänge man zu welchem Zeitpunkt schlendert, wen man wann wo in der Masse erspäht, welchen Momentaufnahmen man zufällig beiwohnen kann und wie sich diese Eindrücke so zufällig zu dem Bild einer Veranstaltung fügen, die hauptsächlich von langen Laufbändern zusammengehalten wird, auf der man sich ganze Tage im Kreis transportieren lassen könnte, während Hostessen kostenlose Sonderausgaben deutscher Wochenzeitschriften reichen.

Vielleicht bleibt ja diese Erkenntnis: Frankfurt ist die Messe der überdimensionierten Brillen. Und diese: Vor den kleinen Ständen, den Ständen, die nur aus einer Zelle bestehen, in denen aber immer zwei Betreuer eng beieinander gedrängt sitzen und mit traurigen Augen auf die vorbeihastenden Besucher mit den bunten Tragetaschen von Hörbuchverlagen schauen, habe ich Angst. Dafür mag ich die großen Dan-Brown-Stände, da liegen die Bücher auf Paletten bereit und Frank Schätzing lächelt mir von einem übergroßen Pappaufstellern in Unterhosen aufmunternd zu. Davor stehen Vertreter und sagen "Ich geh dann mal Suhrkamp". Sie greifen in die überdimensionierten Schüsseln mit den Bonbons und ziehen dabei gleich noch zwei Verträge mit heraus. Wolf Haas, der glücklicherweise immer noch die besten Bücher schreibt, beantwortet Fragen für eine große deutsche Tageszeitung und keine dreißig Minuten später die gleichen Fragen für einen großen deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender. Das Fazit ist, dass jeder Werbung für seine Bücher macht.

Zum Abschluss dann beim 3Sat-Stand. Dort wird eine Sondersendung zum Thema "Kulturflatrate" aufgezeichnet. Der Aufnahmeleiter dirigiert die eben volljährig gewordenen Praktikantinnen auf die leeren Stühle. In der Diskussionsrunde hat jeder seine Funktion: Die Ökonomin verwehrt sich gegen ein zu starkes Eingreifen in den Markt, der Journalist bezeichnet die Zeitung als älteste Flatrate der Welt und der Schriftsteller ist hauptsächlich sarkastisch. Die entscheidenden Worte fallen dem Verleger zu. Er äußert sich erst am Ende offen, als die Zeit längst abgelaufen ist und nichts weiter mehr diskutiert werden kann. Er sagt etwas wie: "Wir existieren schon seit 200 bis225 Jahren. Wir müssen uns bestimmt nicht ändern. Wir werden bestimmt nicht einfach so die weiße Fahne hissen." Würde man einen Film über ihn machen, müssten man ihn "Die Chronik eines angekündigten Todes" nennen.

Am Abend zurück zum Kunstverein an den Römer. Dort wird der alternative Literaturnobelpreis verliehen, den diesmal Alexander Schimmelbusch erhält. Dort ist eine Feier, dort ist das Haus sehr schnell gefüllt. Man könnte erzählen von empörenden Backstagegeschichten, skandalösen Offenbarungen und Ausrutschern Prominenter. Aber das war ein Text über die Magie der korrekten Mikrofonierung.

Nächster Termin: 27.10.2009, Hamburg: Mathilde, Literatur & Café

Werdau, 7. Oktober, Stadt- und Kreisbibliothek

Es ist furchtbar. Dieses Gefühl. Manche sagen Lampenfieber dazu. Vielleicht fünfzig Zentimeter sind es bis zum Schrank. Dort ist ein Armaturenbrett eingelassen. Mit den Knöpfen auf dem Brett kann man das Licht im Festsaal löschen. Das ist meine Aufgabe. Das Licht löschen. Jemand wird sagen: "Und nun viel Freude bei der Premiere dieses Films" und dann werde ich aufstehen, die fünfzig Zentimeter bis zum Schrank zurücklegen, den Schrank öffnen, zwei Knöpfe drücken und sofort wird sich der Raum verdunkeln. Schweiß tritt auf meine Stirn und die Luft schnürt es ab, sekundenlang setzt das Herz aus, wenn ich daran denke. Daran denke, was alles passieren könnte. Ich könnte stolpern, ich könnte daran scheitern, die Tür zum Schrank zu öffnen, ich könnte die falschen Knöpfe drücken, ich könnte in einem Anfall von Verzweiflung versuchen zu erklären, warum ich versage. Und dann wären diese Blicke, alle im Saal würden mich anstarren, sie würden sich jede meiner Bewegungen einprägen und in ihren Köpfen eine unsichtbare Notiz anlegen, auf der sie mich skizzieren und in eine Schublade stecken, die Er-hat-nicht-geliefert-Schublade.

Dreißig Minuten lang werden Reden gehalten und in diesen dreißig Minuten drehe ich nahezu durch. Vollkommen irrational natürlich und narzisstisch vermutlich dazu. Mein Kreislauf sieht das aber anders, er verhält sich asozial, pumpt alles Blut in den Fuß, der hektisch und nervös auf den Boden schlägt. Schließlich kommt der große Moment. Er dauert drei Sekunden, ich drücke zwei Knöpfe, das Licht verlischt, der Film startet, ich atme durch. Bis mir einen Moment später einfällt, dass es auch meine Aufgabe sein wird, das Licht wieder anzuschalten. Und tatsächlich: Später in der Dunkelheit finden meine Finger nicht die passenden Knöpfe, sondern fahren erst den Sonnenschutz runter und die Leinwand hoch. Und alle Befürchtungen werden wahr und ich denke zärtlich an Lampenfieber, diesen guten, zuverlässigen, immer rechtbehaltenden Weggefährten.

Das war gestern. Heute ist die erste Lesung zum Buch. Ein Buch, mit dem ich einige Zeit verbracht habe. Schlägt man im Wörterbuch unter "Euphemismus" nach, steht dort: "Der Schlaf und das Flüstern: Der Autor hat einige Zeit damit verbracht." Hier und jetzt fühle ich nichts. Also nichts, was furchtbar wäre. Lampenfieber zum Beispiel. Was mich erstaunt und vielleicht auch beschämt. Man sollte denken: Nur mit Lampenfieber nimmt man eine Sache ernst. Der Rest ist Hobby. Je länger man darüber nachsinniert, desto unheimlicher wird alles. Gründe durchzudrehen gäbe es genug. Das wahnsinnige und eigentlich zum Scheitern verurteilte Unterfangen, eine Geschichte von 272 Seiten in einer Stunde auf den Punkt bringen zu wollen. Ich vermute, dass ich schon Tage bräuchte, um zu erklären, was allein das erste Kapitel bedeuten könnte. Und das ist nur ein Bruchteil von dem, was ich sagen könnte.

Ob ich es überhaupt sagen möchte, darüber bin ich mir nicht im Klaren. Zwischen all den Freunden und ehemaligen Lehrerinnen, die mir wahrscheinlich gewogen sind, egal, was ich schreibe, sitzen ja auch Fremde. Und meine Geschichte erscheint mir klein und banal und unbedeutend, nichts jedenfalls, mit dem ich andere eine Stunde ihrer Leben belästigen sollte. Und meine Geschichte erscheint mir groß und fantastisch und wichtig, ich möchte sie herausbrüllen, die vierzehn Stunden am Tag, die ich wach bin, möchte ich nur davon erzählen, ich möchte, dass jeder davon hört, nicht jeder muss sie gut finden - schließlich bin ich Realist - aber jeder muss sie hören, jeder, weltweit, auch die 6,7 Milliarden Menschen, die kein Deutsch lesen können.

So ist das also. In dem Moment, bevor alles losgeht. Und das Nachdenken darüber, warum ich keine Anspannung in mir spüre, hat zur Folge, dass ich plötzlich gespannt bin, gespannt und angespannt. Weil mich das beruhigt, weil ich das Buch in meinen Händen fühle, weil das Mineralwasser auf dem Tisch keine Kohlensäure hat, weil mich die ehemaligen Lehrerinnen trotz der sicher nicht zwingend vorteilhaften Kapitel über Schule erwartungsvoll ansehen, weil das im Gegensatz zum Roman weder gut noch schlecht enden kann, sondern einfach nur weitergeht, wie alles einfach nur weitergeht, geht es jetzt eben los. Der Schlaf und das Flüstern. Jetzt auch in der Öffentlichkeit.

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