Studie zur Vermögensverteilung Die Einkommensschere in Deutschland öffnet sich weiter

Berlin · Seit der Finanzkrise 2010 nimmt die Ungleichheit zwischen den reichsten und den ärmsten Haushalten in Deutschland wieder zu. Wirtschaftsforscher warnen vor einer erhöhten Armutsgefahr für Jüngere und in den großen Städten. Fragen und Antworten zum Thema.

Viele Menschen gehen nebenbei in einem Mini-Job putzen, um ihr Einkommen aufzubessern (Symbolbild).

Viele Menschen gehen nebenbei in einem Mini-Job putzen, um ihr Einkommen aufzubessern (Symbolbild).

Foto: dpa-tmn/Frank Rumpenhorst

Die verfügbaren Einkommen in Deutschland sind in den vergangenen 25 Jahren insgesamt zwar deutlich gestiegen, doch profitierten davon die Besserverdienenden merklich stärker als untere Einkommen. Das geht aus der neuen Einkommenserhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin hervor, die am Dienstag vorgestellt wurde. Demnach stiegen die verfügbaren realen Haushaltsnettoeinkommen zwischen 1991 und 2016 – nach den letztverfügbaren Daten – im Durchschnitt um 18 Prozent. Die höchsten Einkommen nahmen allerdings um 35 Prozent zu, während in den mittleren Einkommensgruppen Zuwächse zwischen acht und 19 Prozent erzielt wurden. Die Gruppe mit den niedrigsten Einkommen musste dagegen seit 2010 sogar Einkommenseinbußen hinnehmen – trotz der guten Konjunktur und der steigenden Beschäftigungszahlen in den vergangenen Jahren.

Wie kamen die Forscher zu diesen Ergebnissen? Das DIW verfügt über eine in Deutschland einzigartige Datenbasis, um die Einkommensentwicklung verlässlich zu erheben. Im Rahmen einer Langzeitstudie des so genannten sozio-oekonomischen Panels (SOEP) werden seit 1984 jedes Jahr in etwa 15.000 ausgesuchten Haushalten die gleichen rund 30.000 Personen unter anderem über die Entwicklung ihrer Einkommen und Lebenszufriedenheit befragt. Die Einkommensstudie des DIW ist die anerkannteste Quelle für die tatsächliche Entwicklung der Einkommensungleichheit. Die Forscher teilen dabei die Haushalte in zehn Einkommensgruppen oder so genannte Dezile ein.

Wie haben sich die Einkommen konkret entwickelt? Vor allem seit 2013 nahmen die Einkommen insgesamt überdurchschnittlich gegenüber den Vorjahren zu. Das DIW nennt als Gründe den kräftigen Beschäftigungsaufbau mit zuletzt mehr als 44 Millionen Beschäftigten. Gleichzeitig seien auch die Löhne seit 2014 durchgängig gestiegen. Seit der Jahrtausendwende stellt das Institut allerdings eine sich öffnende Einkommensschere fest. Während die Einkommen im obersten, zehnten Dezil seit 1991 um mehr als ein Drittel wuchsen, gingen die Einkommen im untersten Dezil seit 2010 wieder zurück – obwohl die Wirtschaft in guter Verfassung gewesen ist und die Arbeitslosigkeit deutlich zurückging. „Eine Erklärung für die seit 2010 schwache Einkommensentwicklung am unteren Rand liefert die Zuwanderung“, heißt es in der Studie. So sei die Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer seit 2010 um die Hälfte auf zehn Millionen im Jahr 2016 gestiegen. Viele von ihnen verdienten unterdurchschnittlich.

Wie wird die Einkommensentwicklung wahrgenommen? In allen zehn Gruppen nahm die Lebenszufriedenheit zur. Sie stieg 2017 im Vergleich zu 2007 und 1997 sogar auf einen Höchststand. Der Anteil derjenigen, die sich „große Sorgen“ um die eigene wirtschaftliche Entwicklung machen, verharrte 2017 mit rund 15 Prozent auf einem niedrigen Niveau, berichtete das DIW. Im Jahr 2006 hätten sich noch knapp 28 Prozent „große Sorgen“ gemacht. Trotz der hohen Zufriedenheit gab allerdings eine knappe Mehrheit oder 55 Prozent der befragten Erwerbstätigen an, dass sie ihren Verdienst als zu niedrig ansehen. Insbesondere Erwerbstätige in den unteren 60 Prozent der Haushalte erwarteten eine höhere Beteiligung an den allgemeinen Einkommenszuwächsen, analysiert das Institut.

Wie entwickelt sich das Armutsrisiko? Wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens bezieht, gilt nach gängiger Definition als armutsgefährdet. Der Anteil der Haushalte, die in den 1990-er Jahren armutsgefährdet gewesen seien, lag laut dem DIW bei rund elf Prozent. Bis 2016 sei dieser Wert auf 16,6 Prozent gestiegen. Auf Basis der SOEP-Studie habe die Niedrigeinkommensschwelle im Jahr 2016 für einen Einpersonenhaushalt bei 1120 Euro im Monat gelegen. Der höchste Anteil von Niedrigeinkommensbeziehern finde sich mit 28 Prozent im Jahr 2016 bei jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren. Gegenüber 1996 sei diese Quote um zwölf Prozentpunkte gestiegen. Stark habe auch die Armutsgefahr für die Gruppe der 25- bis 34-Jährigen zugenommen: Von ihnen verdienten 23 Prozent weniger als 1120 Euro. In diesem Alter werde werde häufig eine Familie gegründet, es komme daher zu Einkommensunterbrechungen.

Wie entwickeln sich die Einkommen in den Städten? In städtischen Regionen habe das Armutsrisiko deutlich zugenommen, weniger im ländlichen Raum. Dies zeige sich besonders in Großstädten mit über 500.000 Einwohnern, was auch der Zuwanderung in diese Städte geschuldet sei, so das Institut. „Die Ergebnisse sind als besorgniserregend zu bewerten, da die Berechnung der Niedrigeinkommensquote vor Wohnkosten vorgenommen wrd und die steigende Wohnkostenbelastung insbesondere in den Ballungsräumen nicht berücksichtigt ist“, heißt es in der Studie.

Welche Konsequenzen fordern die Wissenschaftler? Die Ungleichheit habe seit 2010 signifikant zugenommen, bilanziert das DIW. Eine Erwerbstätigkeit allein sei kein ausreichender Schutz mehr vor Einkommensarmut. Die Politik müsse deshalb auf höhere Lohnabschlüsse drängen, insgesamt mehr Beschäftigte durch Allgemeinverbindlichkeitserklärungen an Tarifverträge binden, neue Anreize setzen, damit mehr Mini-Jobs in Teil- oder Vollzeitjobs umgewandelt würden – und für mehr bezahlbaren Wohnraum sorgen.

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