Machtlose Literatur

Es gibt die weitverbreitete, aber irrige Ansicht, dass Literatur die Welt verändern könne. Dass Bücher Kriege beenden und Machthaber stürzen können; und dass Leser an sich keine schlechten Menschen sind.

Der Nobelpreis an die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch schürt solche romantischen Hoffnungen. Ihre Sammlung der Stimmen vieler Hundert Menschen sind natürlich eine Anklage gegen Krieg und Unterdrückung. Doch wären ihre Bücher nur das, bliebe die Wirkung beschränkt. Alexijewitsch, die in ihrer Heimat selbst der Verfolgung ausgesetzt ist, findet mit ihren Protokollen vielmehr Zugang zum Wesen unserer Existenz, zu unseren Ängsten und Alpträumen. Ihre arrangierten Dokumentationen sind immer auch Protokolle der Seele. Literatur beginnt dort, wo Propaganda aufhört. Und ein Schriftsteller endet da, wo er für ein Ziel vereinnahmt wird. Das hat Swetlana Alexijewitsch früh erkannt, als sie die Barrikade zum gefährlichen Ort für Künstler erklärte. Dort verderbe man sich die Augen und die Welt büße ihre Farben ein, sagt sie. Dort sei alles nur schwarz oder weiß.

(los)
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