Frankreich als Brutstätte des Terrors

Paris · Die Sorge über sich selbst radikalisierende islamische Gruppen und Einzeltäter wächst. Offenbar ist auch der Attentäter, der im Jüdischen Museum in Brüssel drei Menschen erschossen hat, ein französischer Staatsbürger.

Nach der Festnahme des mutmaßlichen Brüssel-Attentäters in der Nähe von Marseille wächst in Frankreich die Sorge vor der Ausbreitung radikal-islamischer Netzwerke im eigenen Land. Die Zahl heimischer "Dschihadisten", selbst ernannter "Gotteskrieger", die im Namen Allahs in Ausbildungslager reisen, nimmt in Frankreich stark zu. Auch Mehdi Nemmouche (29), der im Jüdischen Museum von Brüssel drei Menschen erschossen haben soll, ist ein zurückgekehrter Syrien-Kämpfer und saß in Frankreich mehrfach im Gefängnis. Dort habe er sich radikalisiert - ein, wie die Ermittler sagen, "klassisches Profil", das die Sicherheitsbehörden so fürchten.

Nach dem mutmaßlichen Attentäter von Brüssel sind in Frankreich vier weitere Islamisten festgenommen worden. Innenminister Bernard Cazeneuve wollte aber keinen direkten Zusammenhang zu dem 29-Jährigen herstellen.

Nach Angaben des Pariser Innenministeriums gibt es derzeit mehr als 740 Franzosen, die in Syrien kämpfen oder bereits zurückgekommen sind. Erst kürzlich warnte die Polizeibehörde Europol vor der Gefahr durch Extremisten, die in Konflikten wie dem syrischen Bürgerkrieg kämpften und anschließend radikalisiert in die EU-Staaten zurückkehrten. Im Fokus steht dabei vor allem Frankreich. Von dort stammten zwei Drittel der in Europa festgenommenen Extremisten. Deren Zahl habe sich allein von 2012 bis 2013 fast verdoppelt. "Wir haben noch nie eine so massive Ausreisewelle wie in den syrischen Bürgerkrieg erlebt", bestätigt der Terrorismus-Experte und Ermittlungsrichter Marc Trévidic. Im Vergleich zum Irak oder den Terrorcamps in Pakistan sei Syrien aus Europa viel leichter zu erreichen. Es genüge, ein Flugzeug mit Ziel Türkei zu nehmen und die syrische Grenze in Richtung Ausbildungslager zu überqueren, schon sei man im Kampf. Internet und soziale Netzwerke erleichterten die Rekrutierung.

Als Brutstätten der islamischen Radikalisierung in Frankreich gelten vor allem der Pariser und Lyoner Großraum, die Gegend um das südfranzösische Toulouse sowie der Norden - überall dort, wo die muslimische Gemeinde stark ist und die Zahl der Sozialwohnungen besonders hoch. Auch Mehdi Nemmouche wuchs in einer solchen Umgebung auf, zunächst im sozial schwachen "Quartier des Trois Ponts" im nordfranzösischen Roubaix, später im benachbarten Tourcoing. Und doch deutete in seinem Lebenslauf zunächst nichts darauf hin, dass aus ihm eines Tages ein Killer werden könnte. Denn bevor Nemmouche abdriftete, glich seine Geschichte der so vieler anderer Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Frankreich: Die Mutter zieht ihn und seine Schwestern zunächst allein auf, dann gibt sie ihn in eine Pflegefamilie ab, weil sie kein Geld mehr hat. Der junge Mann, den Nachbarn als nett und intelligent beschreiben, macht sein Abitur.

Erst mit 23 Jahren wird er als Dieb gefasst, verurteilt, kommt ins Gefängnis, wird rückfällig. Seit 2001 sei er fünfmal im Gefängnis gewesen, sagt Staatsanwalt François Molins. Bei seinem letzten Haftaufenthalt habe er sich radikalisiert - ähnlich wie einst Mohamed Merah, der im März 2012 in Toulouse sieben Menschen erschoss. "Nemmouche lässt sich einen Bart wachsen, verweigert ein Fernsehgerät und verlangt lediglich danach, als die Merah-Affäre in Frankreich hochkocht. Danach gibt er es wieder zurück", erinnert sich Gefängniswärter David Mantion.

Kurz nach seiner Haftentlassung im Dezember 2012 reist Nemmouche über Belgien, Großbritannien, den Libanon und die Türkei nach Syrien, wo er sich offenbar Dschihadisten anschließt. Als er im Frühjahr dieses Jahres von Malaysia aus kommend über Frankfurt nach Frankreich zurückkehrt, informieren die deutschen Behörden umgehend den französischen Inlandsgeheimdienst. Der aber verliert die Spur des Mannes, bis er den Behörden am Freitag per Zufall in die Hände fällt. Im Gepäck hat er ein Bekennervideo und eine Kalaschnikow, sorgfältig eingehüllt in die Flagge der Dschihadisten-Gruppe "Islamischer Staat im Irak und in Syrien".

Die französische Führung zeigt sich angesichts der Radikalisierung im eigenen Land besorgt. "Gefängnisse sollten nicht zur Ausbildung von Dschihadisten dienen. Doch faktisch wird dort radikales Gedankengut verbreitet", räumte Innenminister Cazeneuve ein. Vor allem die überfüllten Haftanstalten der städtischen Ballungsräume gelten als Brutstätte für den Islamismus. Cazeneuve hat nun versprochen, bis Ende Juni einen Aktionsplan zur besseren Bekämpfung der Dschihadisten im eigenen Land vorzulegen.

(RP)
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