Isolde Charim Warum fühlen wir uns alle so erschöpft, Frau Charim?

Interview · Narzissmus ist nicht nur eine individuelle Charakterstörung, sondern ein gesellschaftliches Prinzip, sagt die Philosophin Isolde Charim. Was das mit Beliebtheitswerten und Konkurrenzdruck zu tun hat – und welche Chancen der Einzelne hat, dem zu entkommen.

 Gefühle wie Erschöpfung können auch gesellschaftliche Ursachen haben.

Gefühle wie Erschöpfung können auch gesellschaftliche Ursachen haben.

Foto: Getty Images/istock

In der Türkei haben die Bürger gerade einen Präsidenten wiedergewählt, der das Land autokratisch umbaut, der die Pressefreiheit untergräbt, politische Gegner ins Gefängnis werfen lässt. In anderen Ländern gibt es ähnliche Tendenzen. Warum unterwerfen sich Menschen freiwillig politischen Führern, die ihnen offensichtlich Freiheitsrechte nehmen?

Isolde Charim Wenn Menschen wie in der Türkei durch ihre Wahl offensichtlich gegen ihr eigenes Interesse verstoßen, bekommen sie vermutlich auf der anderen Seite etwas dafür. Sie sind ja nicht alle verrückt oder irrational. Erdogan ist Vertreter eines älteren Politikertypus, den ich als Über-ich-Figur beschreiben würde. Eine Art Vaterfigur, die einen nicht-territorialen Nationalismus vertritt. Das hat er bei seinen aktuellen Wahlkampfauftritten wieder gezeigt: Er selbst und seine Vertreter sind herumgefahren und haben den Türken in Österreich, Deutschland, wo auch immer gesagt: Da wo ein Türke ist, dort ist Türkei. Er bezieht sich also nur noch auf die Nation, nicht mehr auf das Territorium – und verkörpert dieses Nationale selbst als Person. Sich daran anzukoppeln, ist anscheinend für viele Menschen ein Bedürfnis und führt dazu, dass sie sich der Autoritätsfigur freiwillig unterwerfen. Aber das ist eine andere Art der Unterwerfung als wir sie in narzisstischen Gesellschaften sehen.

Sie behandeln Narzissmus nicht als individuelle Charakterstörung, sondern als gesellschaftliches Prinzip, als etwas, das unsere Verhältnisse hervorbringt. Wieso befördert unsere Art des Zusammenlebens Narzissmus?

Charim Das ist eine Entwicklung seit etwa 30, 40 Jahren. Auch vorher haben wir nach den Gesetzen des Marktes gelebt und es ging um Eigennutz, Egoismus, Konkurrenz, aber es gab massive gesellschaftliche Vorkehrungen, um den Narzissmus einzuhegen etwa durch Autoritäten, Moral, Religion – so wie heute noch in der Türkei. Es gab also das ökonomische Subjekt, aber auch Räume, in denen andere Regeln galten, etwa in der Familie, in der Liebe, in der Religion. Aber das ist vorbei. Inzwischen haben wir Verhältnisse, in denen es diese alten Autoritäten nicht mehr gibt, in denen stattdessen in allen Bereichen Narzissmus befördert wird.

Wodurch?

Charim Die Leute sind heute nicht selbstsüchtiger, egoistischer, narzisstischer als früher, es geht mir nicht um individuelle Charaktereigenschaften, sondern um gesellschaftliche Verhältnisse, die jeden von uns dazu bringen, narzisstischer zu handeln. Ob wir wollen oder nicht. Das hat mit der vollkommenen Entgrenzung von Konkurrenzverhältnissen zu tun. In der Kunst, der Liebe, der Ökonomie, der Bildung – überall geht es um Konkurrenz. Und dieser ständige, unerbittliche Wettbewerb ist eine Bedrohung. Er hängt wie ein Damoklesschwert über uns allen. Die Konkurrenzverhältnisse zeigen sich in allgegenwärtigen Rangordnungen. Überall geht es um Likes, Rankings, Beliebtheitswerte. Und bewertet werden nicht einzelne Leistungen, sondern der ganze Mensch. In solchen Verhältnissen streben alle nach narzisstischer Erfüllung, sie wollen an die erste Stelle, sie wollen die Besten sein. Denn das erscheint als die einzige Möglichkeit, dem Konkurrenzdruck zu entkommen. Der oder die Erste ist so toll, dass er nicht mehr bewertet wird. Diesem trügerischen Versprechen rennen alle hinterher, weil das als Rettung erscheint vor der grauenhaften Konkurrenz und der dauernden Gefahr persönlicher Abwertung. Alle konkurrieren immer eifriger, weil sie ein vermeintliches Jenseits der Konkurrenz erreichen wollen, einen rettenden Hafen. Das Perfide ist also: Man meint, der Konkurrenz nur durch noch mehr Konkurrenz entkommen zu können. Das ist ein ungeheurer Antrieb.

Gerade unter jungen Leuten zeigt sich gerade, dass viele diesen Wettkampf gar nicht mehr mitmachen möchten. Sie machen lieber gar nichts, weil sie die Zukunft für sich wie für den Planeten so pessimistisch einschätzen.

Charim Das ist interessant, denn früher war Verweigerung eine produktive Haltung. Die Jugend hat sich den moralischen Normen verweigert, um etwas Anderes auszuprobieren. Heute ist Verweigerung eher Erschöpfung. Ein Nichts. Sie enthält kein Gegenkonzept. Genauso hat sich der Begriff der Unterwerfung verändert. Früher hieß Unterwerfung Verzicht, man musste sich einschränken, um den Normen zu entsprechen. Der Narzissmus dockt dagegen an Gefühlen an, die wir ohnehin haben. Wir glauben, an der Konkurrenz teilnehmen zu wollen und erfüllen darin die gesellschaftliche Norm. Wenn Leute also das Gefühl haben, sie könnten nicht mithalten, begehren sie nicht auf, sondern verfallen in eine völlige Lethargie. Denn wenn sie aus dem Wettkampf aussteigen, müssen sie auch ihr Begehren aufgeben – nämlich die Besten werden zu wollen.

Aber Menschen aller Zeiten haben danach gestrebt, sich zu verbessern oder über sich hinauszuwachsen. Warum ist das plötzlich schlecht?

Charim Das ist zu simpel gedacht. Natürlich ist Wettkampf produktiv. Er ist also im Ergebnis nicht schlecht. Aber indem man daran teilnimmt, unterwirft man sich zugleich immer dem narzisstischen Prinzip. Und je mehr man sich bemüht der oder die Beste zu werden, desto tiefer ist diese Unterwerfung. Mir geht es nicht um den pathologischen Fall des Narzissten. Mich interessiert gerade die Normalität des narzisstischen Denkens. Freud hat Narzissmus ja beschrieben als eine Art Urzustand bei Säuglingen, wenn sie noch keine Differenz zwischen sich und der Welt machen, und sich noch ganz allmächtig fühlen. Man kann darüber streiten, ob es diesen paradiesischen Zustand wirklich gibt, aus dem der Mensch dann durch das Einbrechen der Realität vertrieben wird, aber es gibt eine große Sehnsucht danach. Es gibt die Sehnsucht, dieses ursprüngliche Ich-Ideal wieder herzustellen, sich wieder eins zu fühlen mit der Welt, wieder diese Allmacht zu spüren. Da dockt der gesellschaftliche Narzissmus an. Er nährt die Verheißung, jeder könne sich zu seinem idealen Ich steigern, wenn er sich nur genug anstrengt, Ehrgeiz beweist. Darum machen wir alle viel mehr, als wir müssten, wir arbeiten länger, wir trainieren, wir bemühen uns. Die Tragödie des Narzissmus ist aber, dass das Ideal nie erreicht werden kann. Der Einzelne bleibt immer unzulänglich. Doch genau das befeuert seine Anstrengungen. Narzissmus ist also zugleich unendlicher Antrieb und permanente Quelle von Frustration.

Doch was nützt diese Erkenntnis?

Charim Ich kann die gesellschaftlichen Mechanismen nur aufzeigen. Was daraus folgt, ist eine politische Frage.

Kann der Einzelne den Qualen des Narzissmus entkommen?

Charim Im Narzissmus selbst gibt es für den Einzelnen keinen Hebel, um dem zu entkommen. Die Gesellschaft funktioniert ja insgesamt nach dem System, das ich beschreibe. Das ist eine Ideologie. Es müsste also ein Bruch von außen kommen. Der wird kommen. Bisher hat noch keine Ideologie ewig gehalten. Aber wir sollten verstehen, dass wir mit dem narzisstischen Konzept denkbar schlecht für die kommenden Krisen gerüstet sind. Ich habe keine Handlungsanleitung, nur das Angebot einer Erkenntnis, um die Verhältnisse besser zu verstehen. Und vielleicht auch etwas in Sprache zu bringen, was viele empfinden, für das ihnen aber die Begriffe fehlen.

Zum Beispiel für das Gefühl der Kränkung und des Ungenügens, das viele haben, ohne zu wissen, woher es rührt?

Charim Ja. Es gibt die alten Ordnungen, die mit Moral und Autorität operieren, in denen Gesetze vorschreiben, welches Verhalten erlaubt ist, welches nicht. Für diese Ordnung steht etwa Erdogan. Wenn man in solchen Systemen etwas Verbotenes tut, fühlt man sich schuldig. In narzisstischen Gesellschaften geht es darum, ob man etwas schafft. Und wenn man versagt, hat man nichts Verbotenes getan, man ist gescheitert – und zwar als ganze Person. Es geht also nicht um Schuld, sondern um Scham. Nicht um das, was man tut, sondern um das, was man ist. Das ist viel tiefer gehend. Aber Scham verwandelt sich viel schwerer in Wut gegen die Verhältnisse. Man ist ja scheinbar immer selbst schuld. Dass es in Wahrheit um etwas Gesellschaftliches geht, möchte ich zeigen.

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