Wiederwahl als Bundestagspräsident Norbert Lammert — der Reformator

Berlin · 95 Prozent Zustimmung für die Wiederwahl. Einen derart starken Rückhalt hat noch kein Bundestagspräsident vor ihm gespürt. Norbert Lammert nutzt die Unterstützung, um sogleich unbequem zu werden und die Fraktionen zu Reformen des Bundestages anzutreiben.

"Das ist die Wahrheit" - Zitate zur ersten Sitzung des Bundestages
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Die Startbedingungen für einen attraktiveren Bundestag könnten ungünstiger nicht sein: 80 Prozent der Plätze nimmt die absehbare Große Koalition ein, nur 20 Prozent bleiben für die beiden Oppositionsparteien. Ginge der Schlagabtausch zu wichtigen Themen nach Proporz, wäre das der Garant für gähnende Langeweile: Vier lange Erläuterungen der Regierungskoalition müssen jeweils abgesessen werden, bevor der erste Oppositionsredner erläutern kann, dass es auch andere Lösungen gibt.

Doch Lammert verweist auf die sehr zurückhaltende Regelung in der Geschäftsordnung des Bundestages. Danach ist die Minutenverteilung bewusst offen gehalten, einzig der amtierende Sitzungspräsident hat die Befugnis, das Wort zu erteilen, und zwar unter Beachtung des Grundsatzes einer Abfolge von Rede und Gegenrede. "Gar nicht so doof", findet Lammert diese Öffnungsklausel. Sie gab ihm in der Vergangenheit bereits die Möglichkeit, auch Abweichlern in der Regierungskoalition gegen den Willen der eigenen Fraktionsführung Rederecht einzuräumen — wodurch die Debatte eindeutig spannender wurde.

Herumbasteln an Verfassung sieht Lammert kritisch

Unlösbare Probleme sieht Lammert auch nicht bei der Ausweitung von Minderheitenrechten. Zwar schreibt die Verfassung vor, dass der Bundestag auf Antrag von 25 Prozent seiner Mitglieder die Pflicht hat, einen Untersuchungsausschuss zu bilden. Doch nach der Rechtsauffassung des Parlamentspräsidenten muss nicht eigens die Verfassung geändert werden, um Grünen und Linken mehr Möglichkeiten einzuräumen. Da es sich hier um eine verfassungsrechtliche Mindestquote handele, sei das Parlament frei darin, den Standard durch interne Regelungen auch zu senken, und zwar ohne Grundgesetzänderungen.

Das Herumbasteln an der Verfassung betrachtet Lammert ohnehin kritisch. Von den 60 Verfassungsänderungen seit 1949 seien 50 in den relativ kurzen Zeiten großer Koalitionen geschehen. Auch das von der letzten großen Koalitionen in die Verfassung geschriebene Kooperationsverbot von Bund und Ländern in der Bildungspolitik gehört für Lammert zu den "Leichtfertigkeiten, zu denen große Mehrheiten neigen". Wenn nun die Einsicht wachse, dass diese Regelung nicht unter Denkmalschutz stehen sollte, werde er das ausdrücklich "nicht beanstanden".

"Verblüffung" ist eines der Lieblingsworte Lammerts, wenn er auf Reaktionen auf seine Reformvorschläge zu sprechen kommt. Das bezieht sich etwa auf seine Initiative, dieses Mal von der Tradition abzusehen, mit der Arbeitsfähigkeit des Parlamentes jeweils so lange zu warten, bis auch die Regierung gebildet ist. Das ist für die Fraktionen zwar bequemer, weil sie dann genau wissen, wer aus ihrer Mitte Posten in der Regierung bekommen hat und wer in Ausschüssen und Arbeitsgruppen untergebracht werden sollte.

Aber Lammert verweist darauf, dass prinzipiell eine nur geschäftsführende Regierung mindestens so viel parlamentarischer Kontrolle bedarf wie eine gewählte. Zudem gibt er zu bedenken, dass bereits im November etwa Mandatsverlängerungen für Auslandseinsätze der Bundeswehr anstehen, während unter den Koalitionsverhandlern ein Zeitrahmen bis zum 17. Dezember bis zur Wahl der Kanzlerin angedacht ist. Die Entscheidung über die Militäreinsätze gehe jedoch "nicht ohne Parlamentsbeteiligung", betont Lammert.

Fragestunden sollen attraktiver werden

Lammert will die im Vergleich zu anderen Parlamenten in Deutschland sehr wenig genutzten Regierungsbefragungen und Fragestunden attraktiver machen. Und auch bei der zukünftigen Regelung der Abgeordneten-Diäten- und Altersversorgung drückt er aufs Tempo. Es dürfe nicht noch einmal so laufen, dass die Fraktionen damit bis zum Ende der Wahlperiode warten und sich dann doch nicht an das Thema heranwagen. In den nächsten Wochen hätten die Fraktionen zwar erkennbar anderes zu tun, doch im nächsten Jahr sollten sie das unbequeme Thema anpacken.

Nicht zuletzt wird Lammert darauf dringen, das gerade neu gefasste Wahlrecht erneut anzuschauen. Dieses sei kaum noch verständlich — und auch von den Auswirkungen her schwer nachzuvollziehen. So hätten vier Überhangmandate zu 29 Ausgleichsmandaten geführt. Da sei vorstellbar, wie sich die Größe des Bundestages ändere, wenn es durch knappere Mehrheiten bei künftigen Wahlen zu deutlich mehr Überhangmandaten kommen werde. "Das kann nicht ernsthaft gewollt sein", merkt der Parlamentspräsident deshalb an. Auch hier will er der antreibende Mahner bleiben. Die 95 Prozent bei seiner Wiederwahl nimmt er deshalb als persönliche Verpflichtung.

(may-)
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