Heute beginnen die Verhandlungen Koalition setzt sich ins gemachte Nest

Berlin · Beginnender Aufschwung, stabiles Wachstum für viele Jahre, volle Kassen, wenig Arbeitslose: Besser kann die Wirtschaftslage zum Start der neuen Bundesregierung kaum sein. Das weckt Begehrlichkeiten und dämpft Reformeifer.

Von Philipp Rösler war nach der verlorenen Bundestagswahl vor vier Wochen nicht mehr viel zu hören und zu sehen. An diesem Mittwoch tritt der scheidende Bundeswirtschaftsminister zum ersten Mal wieder in der breiteren Öffentlichkeit auf, und es wird sicher kein einfacher Auftritt. Rösler kommt als Überbringer guter Nachrichten, von denen er selbst allerdings nicht mehr profitieren kann.

Der zurückgetretene FDP-Vorsitzende präsentiert die neue Konjunkturprognose der alten Bundesregierung, und die sieht wirklich gut aus: Deutschland stehe am Beginn eines Aufschwungs, wird Rösler heute verkünden. Das Wachstum werde sich deutlich von 0,5 auf 1,7 Prozent im nächsten Jahr beschleunigen. Die Erwerbstätigenzahl werde 2014 nochmals um 180 000 Personen auf den Rekordwert von 42 Millionen klettern.

Besser kann die Ausgangslage kaum sein

Besser können die aktuelle Wirtschaftslage und der Ausblick auf das kommende Jahr zum Start einer neuen Regierung gar nicht sein. Und nicht nur für 2014, auch für die Jahre danach prophezeien die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute weiterhin ansehnliche Wachstumsraten, eine hohe Beschäftigung und folglich auch volle Kassen. Der Staat werde ab sofort sogar Überschüsse einfahren können, die Jahr für Jahr größer würden — bis sie im Jahr 2018 dann über 30 Milliarden Euro betrügen, rechnen die Institute vor.

Die Zahl der Arbeitslosen werde im laufenden und im kommenden Jahr unter der Drei-Millionen-Grenze liegen, wird Rösler heute verkünden. Mit einer Arbeitslosenquote von nur 6,8 Prozent im Jahr 2014 wird Deutschland am untersten Ende im Vergleich der EU-Staaten liegen. Keiner anderen großen europäischen Volkswirtschaft geht es derzeit und in naher Zukunft so gut wie Deutschland. Das international bereits bestaunte und beneidete "German Jobwunder" setzt seine Erfolgsstory fort.

Schlechte Zeiten für Strukturreformen

Union und SPD finden also beeindruckend gute Voraussetzungen vor, wenn sie die Geschäfte in Berlin übernehmen. Was sie daraus machen, ist allerdings die bange Frage, die sich nicht nur die Wirtschaftsverbände stellen. Schon vor Beginn der Koalitionsverhandlungen wird deutlich, dass Union und SPD ihr Augenmerk viel lieber auf höhere Leistungen und mehr Ausgaben richten als auf mühsame Reparaturarbeiten etwa an der Energiewende oder komplizierte Strukturreformen im Gesundheitswesen oder bei der Pflege.

"Es ist eine Erfahrungstatsache, dass wirtschaftlich gute Zeiten, wie wir sie wohl in der nächsten Zeit sehen werden, schlechte Zeiten für Strukturreformen sind", prophezeit Bert Rürup. der frühere Chef der Wirtschaftsweisen. Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder hätte im Jahr 2003 niemals die Reformagenda 2010 erfunden, wenn Deutschland nicht damals als "kranker Mann Europas" gegolten hätte und Schröder nicht die Defizite in der Sozialversicherung über den Kopf gewachsen wären. "Es wird jetzt schon deutlich, dass es nun ums Geschenkeverteilen geht", meint auch der Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen.

Auf der Agenda stehen kostspielige Projekte

Und tatsächlich: Auf der Agenda der Großkoalitionäre stehen ein höheres Kindergeld, höhere Renten für ältere Mütter, eine Mindestrente für Geringverdiener und höhere Altersbezüge für Erwerbsgeminderte, mehr Ausgaben für Straßen, Schulen und Universitäten, höhere Leistungen für Demenzkranke und andere Pflegebedürftige, generell mehr Geld für die Kommunen und Länder, mehr Förderprogramme für Langzeitarbeitslose und ein flächendeckender Mindestlohn für alle.

Die bisherigen Reformvorstellungen bei Union und SPD, was etwa die völlig aus dem Ruder laufende Energiewende angeht oder die Kostenexplosion bei der Pflege, sind dagegen vage, widersprüchlich oder nicht existent. Lieber verordnet die Bundeskanzlerin den übrigen Euro-Staaten Strukturreformen auf dem EU-Gipfel in dieser Woche, als dass sie die Großkoalitionäre zuhause mit dem Ruf nach Reformen aufschrecken möchte. Läuft doch im Grunde alles prima, mag sich Angela Merkel zu Beginn ihrer dritten und wahrscheinlich letzten Amtsperiode denken.

Die Energiewende braucht weitreichende Entscheidungen

Wenn sich die Kanzlerin und ihre übergroße Koalition da mal nicht täuschen. Bei der Energiewende drohen die Probleme so komplex zu werden, dass die Bundesregierung darüber die Kontrolle verlieren könnte. Reparaturarbeiten an einer Stelle können sich rächen, weil sie an anderer Stelle zu Fehlentwicklungen führen. Die widerstreitenden Länder- und Brancheninteressen bei der Energiewende zu moderieren, ist eine Herkulesaufgabe der neuen Regierung. Dieser Herausforderung sollte sie sich lieber früher als später stellen, und die ersten Reformschritte sollten lieber größer als kleiner sein. Einschnitte für einzelne Branchen und einen Systemwechsel regelt man lieber gleich am Anfang einer Wahlperiode.

Merkels vorerst größte Baustelle auf europäischer Ebene bleibt aber die Euro-Rettung, die noch lange nicht erledigt ist. Nach der Wahl ist für viele notleidende Euro-Partner jetzt kein Halten mehr: Sie fordern mehr Hilfeleistungen von Deutschland, wollen dafür aber möglichst wenig hergeben. Hier hart zu bleiben, wird Merkels ganze Kraft erfordern. Vor allem die SPD wird auf mehr Wachstumsimpulse pochen, Deutschland wird das viel Geld kosten.

Auch die Wirkungen des demografischen Wandels werden in Berlin gern unterschätzt. Gelingt es nicht, Schulabbrecherquoten zu verringern, Zuwanderer besser auszubilden und zu integrieren, Ältere länger im Erwerbsleben zu halten, wird die Zahl der Arbeitskräfte noch schneller abnehmen. Das nötige Wachstum zum Auffüllen der Renten- und Pflegekassen bleibt dann aus. Hier liegt die Hauptaufgabe in der Bildungspolitik, für die die Länder zuständig sind. Die große Koalition darf Ländern und Kommunen nicht einfach nur mehr Geld versprechen, sie muss ihnen dafür auch Gegenleistungen abtrotzen.

(mar)