Proteste in Frankreich Ein Hauch von Bürgerkrieg

Analyse · Die Rentenreform von Emmanuel Macron lässt in Frankreich die Emotionen überkochen. Seit jeher fordern die Menschen ihre Rechte auf der Straße ein – das ist keine Folklore, sondern reicht tief in die Geschichte zurück.

Feuerwehrleute kontrollieren Müll nach dem Löschen eines Feuers während einer Demonstration.

Feuerwehrleute kontrollieren Müll nach dem Löschen eines Feuers während einer Demonstration.

Foto: dpa/Anna Kurth

Auf dem Platz vor der Pariser Oper lag diese Woche morgens noch ein verkohlter Motorroller neben verbrannten Mülltonnen. Die Überreste zeugten von den gewaltsamen Szenen, die sich am Vorabend in dem Touristenviertel abgespielt hatten. „Macron Rücktritt“ und „Zu den Waffen“ skandierten die meist jugendlichen Demonstrierenden, die sich nach dem knapp gescheiterten Misstrauensantrag gegen die Regierung zu spontanen Kundgebungen in der Hauptstadt und anderswo versammelt hatten. Seit Wochen nicht abgeholter Müll wurde angezündet, die Polizei wurde mit Wurfgeschossen angegriffen. Die Beamten reagierten mit Tränengas und Gummiknüppeln. Ein Hauch von Bürgerkrieg lag in der Luft.

Für Frankreich ist diese explosive Stimmung nichts Neues. Da es kaum einen sozialen Dialog zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern gibt, fordern die Menschen ihre Rechte seit Jahrzehnten auf der Straße ein. Unvergessen sind die Proteste 1995 gegen die Rentenreform des damaligen Premierministers Alain Juppé, der sein Projekt aufgeben und zurücktreten musste. Fast 30 Jahre später facht Emmanuel Macron mit seiner eigenen Reform, die das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre hochsetzt, die Wut der Straße an.

Mehrere Millionen Menschen demonstrierten seit Januar gegen seine Pläne – so viele wie seit Juppés Zeiten nicht mehr. Was unter der Kontrolle der Gewerkschaften friedlich begann, schlägt seit der Entscheidung der Regierung, die Rentenreform ohne Parlamentsvotum durchzuboxen, in Gewalt um. Als habe sich die Opposition, die in der französischen Nationalversammlung nicht über das Projekt abstimmen durfte, auf die Straße verlagert.

Frankreich: Flammen und Gewalt bei Protest gegen Rentenreform​
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Feuer, Gewalt und Protest - Ausschreitungen in Frankreich gegen Rentenreform

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Foto: AP/Thomas Padilla

„In der Geschichte unseres Landes war es immer das Volk, das entschied“, sagt Amar Lagha von der kommunistisch geprägten Gewerkschaft CGT, die vom Präsidenten wie die anderen Arbeitnehmervertretungen den kompletten Verzicht auf das Vorhaben fordert. „Wir werden bis zum Ende durchhalten, bis wir gewinnen, bis zum Rückzug“, kündigte Lagha in der Zeitung „Le Monde“ kämpferisch an.

Schon die Revolution habe 1789 die Kampfbereitschaft der Französinnen und Franzosen gezeigt, analysiert der Soziologe Jean Viard: „Die Revolution ist heute noch ein Symbol, und wir sind stolz auf sie.“ Außer dem welthistorischen Epochenjahr 1789 gibt es weitere Daten, die im kollektiven Gedächtnis Frankreichs haften geblieben sind: 1936 wurde nach massiven Streiks der bezahlte Urlaub durchgesetzt, 1968 nach Studentenprotesten und einem wochenlangen Generalstreik eine drastische Erhöhung des Mindestlohns. Soziale Errungenschaften seien mit Streiks und Demonstrationen verbunden, bemerkt Viard.

Tatsächlich fielen in Frankreich laut einer Statistik der Hans-Böckler-Stiftung zwischen 2011 und 2020 pro Jahr durchschnittlich 93 Arbeitstage pro 1000 Beschäftigte durch Arbeitskampf aus. In Deutschland waren es lediglich 18. Viard verweist allerdings darauf, dass Streiks keine französische „Nationalfolklore“ seien. Bei den Protesten gehe es vielmehr um grundlegende Werte wie die Freiheit – zusammen mit Gleichheit und Brüderlichkeit war sie die Losung der Revolution.

Wie sehr diese Revolution heute noch in den Köpfen verankert ist, zeigten die Proteste der vergangenen Tage auf der Pariser Place de la Concorde. Dort, wo 1793 der französische König hingerichtet worden war, verbrannten Demonstrierende Bilder Macrons und riefen: „Ludwig XVI. haben wir enthauptet. Mit Macron können wir von vorne anfangen.“ Dass der Präsident so viel Hass auf sich zieht, liegt auch an seiner Inszenierung als starker Mann. In einem Interview sagte er bereits 2015: „Es gibt in Frankreichs demokratischem Prozess und seiner Funktionsweise einen Abwesenden: den Monarchen. Ich glaube zutiefst, dass die Franzosen seinen Tod nicht wollten.“

Macrons Vorbild ist sein Vorvorgänger Charles de Gaulle, der dem Präsidentenamt mit dem Wechsel zur Fünften Republik 1958 seine heutige Machtfülle gab. Diese Machtfülle nutzt der Staatschef voll aus, was ihn für viele autoritär und arrogant erscheinen lässt. Den revolutionären Geist seiner Landsleute stachelt er damit noch an. Bereits bei den Protesten der Gelbwesten vor gut vier Jahren war Macron Zielscheibe der Demonstrierenden. 75 Prozent der Französinnen und Franzosen unterstützten anfangs die Bewegung, die den Pariser Triumphbogen verwüstete und auf den Champs-Elysées randalierte. Erst nach einem halben Jahr fand sich eine Mehrheit, die dafür war, dass nun endlich Ruhe einkehre.

Es ist sicher kein Zufall, dass bei den Protesten gegen die Rentenreform heute dasselbe Lied gesungen wird wie damals bei den Gelbwesten: „Wir sind da, wir sind da. Selbst wenn Macron es nicht will: Wir sind da.“ Das Phänomen der „Gilets Jaunes“ endete erst mit milliardenschweren Hilfen und einem Bürgerdialog. Diesmal dürfte Macron sich den Frieden weder mit Geld noch mit Gesprächen erkaufen können. Er muss wohl in den nächsten Wochen weiter mit den Protesten leben.

Den ersten Staatsbesuch des britischen Königs Charles und seiner Frau Camilla haben sie schon gestört: Deren für Anfang der Woche geplante Visite in Frankreich wird verschoben. Ein festliches Dîner in Schloss Versailles, während vor den Gittern des Schlosses von Ludwig XVI. demonstriert wird – das wäre dann doch zu peinlich gewesen. Nicht für Charles. Sondern für Macron.

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