Pariser Luxusherberge Lutetia Hotel und heiliger Ort

Paris · Das Pariser Luxushotel Lutetia hat nach vierjähriger Renovierung wiedereröffnet. Von der Rolle, die das legendäre Fünf-Sterne-Haus 1945 für rund 20.000 Rückkehrer aus den Konzentrationslagern spielte, zeugt nur noch eine Steintafel.

 Die renovierte Fassade des neu eröffneten Luxushotels Lutetia am Boulevard Raspail.

Die renovierte Fassade des neu eröffneten Luxushotels Lutetia am Boulevard Raspail.

Foto: dpa/Christian Böhmer

Christiane Umido beugt sich über eine historische Aufnahme des Lutetia, zeigt mit dem Finger auf einen kleinen Park gegenüber des Luxushotels: „Genau da stand ich, als mein Vater auf mich zukam.“ Die 87-Jährige erinnert sich an den 8. Juni 1945, ihren 14. Geburtstag. Im Radio hört sie wie jeden Morgen die Namen der Deportierten, die aus den Konzentrationslagern zurückkommen und im Lutetia aufgenommen werden.

Dort, wo früher Pablo Picasso und Heinrich Mann einkehrten, schlafen die Rückkehrer. Menschen, die das Grauen hinter sich haben. Wie Claude Umido, Christianes Vater. Er ist zusammen mit seiner Frau im Januar 1943 als Widerstandskämpfer im von den Nazis besetzten Paris festgenommen und dann ins KZ Sachsenhausen gebracht worden. „Er hatte Widerstandskämpfer versteckt, die von der Polizei gesucht wurden“, sagt seine Tochter.

In einer Schachtel bewahrt Christiane Umido den Brief auf, den er ihr aus Sachsenhausen schickte. Einfache Worte, von einem Unbekannten verfasst, um zu sagen, dass es dem Vater gut geht. Auch ein Foto mit ihren Eltern gehört zu den Dingen, die die sanfte, grauhaarige Frau in ihrer Wohnung nahe des Pariser Invalidendoms hütet. Die kleine Christiane schmiegt sich an den Vater, die Mutter sitzt lächelnd daneben.

Joséphine Umido stirbt im März 1945 im KZ Auschwitz. „Wir haben mit meinem Vater nach seiner Rückkehr nie mehr über meine Mutter geredet“, sagt ihre Tochter, der nur das Foto und die Orden geblieben sind, mit denen Joséphine Umido nach dem Krieg postum als „Résistante“, als Widerstandskämpferin, ausgezeichnet wurde.

Claude Umido ist krank und abgemagert, als er im Hotel Lutetia ankommt. Ärzte untersuchen ihn wie die anderen Deportierten, versuchen, das Ungeziefer an seinem Körper zu vernichten. Als ihr Vater auf sie zukommt, erkennt Christiane Umido ihn sofort. Nie vergisst sie den Satz, den er zu ihr sagt: „Ich habe mir die Füße blutig gelaufen, aber ich wollte an deinem Geburtstag unbedingt bei dir sein.“

Im April 1945 entscheidet Charles de Gaulle, das Lutetia mit seinen sieben Etagen und 350 Zimmern zu beschlagnahmen, um dort unter Führung des Roten Kreuzes die Rückkehrer aufzunehmen. Der General erkennt unter dem Eindruck der ersten Fotos aus dem befreiten KZ Auschwitz, dass die wenigen Überlebenden unter den insgesamt 166.000 Deportierten eine besondere Betreuung brauchen. Das Lutetia wählt de Gaulle nicht zufällig aus: Er kennt das Luxushotel am Seineufer gut, er war regelmäßig Gast. Sogar seine Hochzeitsnacht soll er dort verbracht haben. Das Lutetia wählte er wegen seiner eleganten Schlichtheit aus. Der prunkvolle Glanz anderer Häuser hätte die Rückkehrer wohl überfordert.

Die Deportierten beziehen die Zimmer, die während des Krieges die Mitglieder der deutschen „Abwehr“, des militärischen Geheimdienstes, bewohnten. Im Keller des Hotels folterten sie die französischen Widerstandskämpfer. „Heute sind es ihre Opfer, die in den Luxuszimmern und den herrschaftlichen Salons die ‚grauen Mäuse‘ und ihre arroganten Diener ersetzen“, heißt es in einem Artikel aus dem Frühjahr 1945.

Knapp 600 Menschen, darunter das Personal, kümmern sich zwischen April und August 1945 um die Ankömmlinge. Die Deportierten, die mit ihren gestreiften KZ-Anzügen in Bussen eintreffen, bekommen Kleidung und Nahrung, die auf dem Schwarzmarkt beschlagnahmt wurde, sowie neue Papiere und ein Metro-Ticket. „Ohne diesen Empfang wären wir verloren gewesen“, sagt Roger Biéron, ein ehemaliger Widerstandskämpfer. Er erinnert sich an das Bett, das ihn erwartete: „Als ich die weißen Laken sah, wusste ich, dass sich mein Leben verändert hatte.“

Viele Rückkehrer schaffen es nicht, sich in diese Betten zu legen und schlafen auf dem Fußboden. Auch die Formulare, die sie ausfüllen müssen, werden ihnen zu viel. Dabei muss die Bürokratie sein, um all jene aufzuspüren, die sich unter die Rückkehrer schmuggeln: Kriminelle oder ehemalige Mitglieder der Waffen-SS.

Die meisten Deportierten schätzen ihr neues Leben in dem Luxushotel. „Nichts ist zu schön, zu gut, zu sauber, zu gut gekocht, luxuriös, teuer oder perfekt für diejenigen, die aus ihren Familien gerissen wurden und die monate-, manchmal jahrelang alles entbehren mussten. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich bei einer öffentlichen Verwaltung so etwas wie Liebe gespürt“, schreibt die Widerstandskämpferin Jacqueline Mesnil-Amar. Rund 20.000 Deportierte wie sie kehren über diese Schleuse von der Totenwelt wieder zu den Lebenden zurück. Im Mai 1945 kommen täglich mehr als 500 Rückkehrer in Bussen am Boulevard Raspail an.

Auf jeder Etage wachen ein Arzt und Krankenschwestern über die zerbrechliche Gesundheit der Neuankömmlinge. Chefarzt Toussaint Gallet ist selbst ein ehemaliger Deportierter. In den Krankenhäusern sucht er Schwestern zur Betreuung der Ankömmlinge. Innerhalb weniger Stunden melden sich dreimal so viele wie gebraucht werden. Freiwillige von Pfadfindern, Quäkern und Heilsarmee bedienen die Deportierten, übernehmen den Empfang, Anrufe und Fahrdienste.

Der spätere sozialistische Regierungschef Michel Rocard ist als Pfadfinder einer von ihnen. „Einige konnten nicht einmal mehr sprechen“, erinnert sich der Politiker kurz vor seinem Tod in dem Dokumentarfilm „Lutetia“. „Sie waren in Schweigen und Traurigkeit versunken. Das war ein Anblick, der einen ein ganzes Leben lang prägt.“ In jenen erschütternden Tagen entscheidet sich Rocard mit nicht einmal 15 Jahren, in die Politik zu gehen.

Auch für andere Prominente ist das Lutetia ein Wendepunkt ihres Lebens. Zum Beispiel die Schriftstellerin Marguerite Duras, die dort ihren Mann wiederfindet, oder die Sängerin Juliette Gréco. „Dieser Ort ist heilig, denn er hat mir das wiedergegeben, was mir am teuersten war. Ich habe dort meine Mutter und meine Schwester wiedergefunden, die die Lager überlebten. All diese Gesichter zu sehen, die wie ich die Ihren suchten, ist gleichzeitig Glück und die Verkörperung des Unglücks“, sagt Gréco 2009 dem „Journal du Dimanche“. „Wir kamen jeden Tag in der Hoffnung, unsere Angehörigen wiederzufinden, ein bisschen wie das Strandgut des Meeres.“

Wie die Sängerin belagern damals viele Familien Tag und Nacht das Lutetia. Sie haben Fotos dabei, die die Deportierten in einem  glücklichen Leben zeigen. Ganze Wände hängen voll mit den Gesuchten. „In der Halle des Hotels standen viele Leute, die uns Fotos entgegen hielten“, schildert Jacques Saurel seine eigene Rückkehr. „Doch wie sollten wir diejenigen erkennen, die bis aufs Skelett abgemagert waren?“.

Am 25. Juni 1945 kommt Saurel im Lutetia an. Er ist erst zwölf Jahre alt. Mit elf wurde er mit seiner Mutter und zwei seiner Geschwister festgenommen und ins Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert. Insgesamt 72.000 Juden in Frankreich teilen sein Schicksal, nur 2600 kommen zurück. An das Datum seiner Ankunft im Lutetia kann der rüstige Rentner sich genau erinnern, denn er sieht dort aus der Menge einen Mann auf sich zukommen, den er kaum wiedererkennt – seinen Vater. Wochenlang war Henri Szwarcenberg jeden Tag in das Hotel gegangen, in der Hoffnung, seine Familie wiederzufinden. Er selbst war schon 1940 als Freiwilliger der Fremdenlegion in Kriegsgefangenschaft geraten und Ende März 1945 nach Frankreich zurückgekehrt.

Für seinen Sohn, der seinen Nachnamen Anfang der 60er Jahre in Saurel ändert, bleibt das Lutetia als Ort der Freude in Erinnerung. „Ich erlebte dort meine zweite Geburt“, sagt der 85-Jährige, der nach dem Krieg Frisör wurde und nach seiner Pensionierung ein Buch über seine Deportation schrieb. „Seither erlebe ich jede Minute als Geschenk.“ Für viele andere Angehörige wurde das Hotel aber zum Synonym für einen Verlust, der sich dort grausam bestätigte.

An die Szenen, die sich in jener Zeit im Lutetia abspielten, erinnert an der Jugendstilfassade heute nur eine Steinplatte. „Von April bis August 1945 wurde in diesem Hotel der Großteil der den Konzentrationslagern Entkommenen aufgenommen, die glücklich waren, ihre Freiheit und ihre Lieben wiederzufinden, denen sie entrissen wurden waren“, steht darauf.

Die Plakette aus dem Jahr 1985 wurde nach der vierjährigen Renovierung des Fünf-Sterne-Hauses, das inzwischen einem israelischen Unternehmen gehört, wieder angebracht. Ansonsten richtet das Hotel seinen Blick aber lieber nach vorne als zurück. „Ich habe dem Chef des Konzerns an seine Privatadresse geschrieben, wie er mit der Erinnerung an die Rückkehr der Deportierten umgehen will, aber keine Antwort erhalten“, berichtet Catherine Breton, Tochter von Deportierten und Vorsitzende der AFMD 75, einem Verein, der sich um die Aufarbeitung dieser Zeit kümmert.

 Jaques Saurel überlebte das KZ Sachsenhausen.

Jaques Saurel überlebte das KZ Sachsenhausen.

Foto: Christine Longin

„Es gibt Leute, die diese Geschichte auslöschen wollen“, sagt Jacques Saurel bitter. Schließlich sei das Lutetia wieder ein Hotel mit reicher, internationaler Kundschaft. Rund 800 Euro kostet eine Nacht in dem „Palast“ im Stadtteil Saint-Germain, der 1910 für die Kunden des gegenüberliegenden Kaufhauses Le Bon Marché gebaut wurde. Jahrzehntelang ließ die Hotelleitung die Überlebenden dort an jedem ersten Donnerstag im Monat zu Abend essen. Ein schöner Brauch, der schon vor der Renovierung ein Ende fand. Von denen, die im Lutetia ihre Verwandten wiederfanden, ist kaum einer noch einmal in das Hotel gegangen. „Ich kann mir das nicht leisten“, sagt Christiane Umido. „Doch jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, sage ich mir: Was für eine Geschichte.“

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