Abtreibungsurteil spaltet USA „Das ist völlig verrückt - wir sind wieder 100 Jahre zurück“

Washington · Entsetzen und Freudengesänge, Jubel und Wut: Die Entscheidung des Obersten Gerichts gegen das bisherige Abtreibungsrecht spaltet die USA. Befürworter und Gegner der Entscheidung des Supreme Court lassen ihren Gefühlen auf den Straßen freien Lauf.

 Abtreibungsgegner feiern das Urteil des Obersten Gerichtshofs.

Abtreibungsgegner feiern das Urteil des Obersten Gerichtshofs.

Foto: dpa/Jose Luis Magana

Manchmal, wie etwa in Washington, liegen zwischen Triumph und Protest nur wenige Meter. Vor dem Gebäude des Obersten Gerichtshofs in der US-Hauptstadt pustet eine Maschine Seifenblasen in die Luft. Partymusik wummert, junge Frauen strahlen. Jemand ruft, „wir haben gesiegt“, ein anderer schwenkt einen symbolischen Grabstein mit den Daten 1973 bis 2022 - es sind die Daten vom Anfang und Ende des Grundsatzurteils zugunsten des Abtreibungsrechts.

„Ich bin so überglücklich, überglücklich“, schreit die 18-jährige Studentin Faith Montgomery gegen die Musik an. Sie sieht nach der Entscheidung der mehrheitlich konservativen Richter eine „neue Ära“ heraufziehen.

Die Stimmung nur wenige Schritte davon entfernt könnte nicht gegensätzlicher sein. Dort herrscht vor allem Wut und Unverständnis. Amy Senkowicz ist entsetzt. Die 63-Jährige hatte mit 16 Jahren legal abgetrieben - nur wenige Jahre, nachdem der Oberste Gerichtshof Frauen das Recht auf diesen Eingriff garantierte. Nun fürchtet die dreifache Mutter eine Rückkehr zu den „Kleiderbügeln... und was sonst auch immer für verrückte Dinge Frauen früher taten in der Hoffnung, nicht mehr schwanger zu sein“.

Zwischen den Teilnehmerinnen beider Demonstrationen kommt es immer mal wieder zu hitzigen Debatten. Bereitschaftspolizisten mit Helmen und Schilden stehen bereit - eingreifen müssen sie nicht.

Ähnlich ist die Atmosphäre in Missouri, dem ersten Bundesstaat der USA, der direkt nach der Gerichtsentscheidung ein Abtreibungsverbot erließ. Während auch dort die Abtreibungsgegner feiern, können einige Demonstrantinnen vor der letzten Klinik, die bislang noch Abtreibungen vornahm, ihre Tränen kaum zurückhalten.

Auch Pamela Lukehart kämpft mit den Tränen. „Wir haben versucht, die Rechte und das Leben der Frauen zu schützen, und jetzt haben sie uns das alles genommen“, sagt die 68-Jährige, die gemeinsam mit ihrer Enkelin zu der Klinik gekommen war. Mit gebrochener Stimme sagt sie dann noch: „Früher starben Frauen bei Abtreibungen“, und „wir haben so hart gekämpft“.

In vielen Städten treibt es vor allem Abtreibungsbefürworter zu Tausenden auf die Straßen. Improvisierte Transparente und hastig auf Pappkartons oder Papier gekritzelte Slogans sprechen in New York für die Verzweiflung der vorwiegend jungen Generation, die zwischen Union Square und Washington Square ihre Wut herausbrüllt: „Mein Körper, meine Entscheidung“.

„Das ist völlig verrückt“, schimpft Brandy Michaud. „Wir sind wieder 100 Jahre zurück.“ Auch sie kann es einfach nicht verstehen, „dass wir weiter kämpfen müssen“. Dabei wirkt sie hilflos.

Mitdemonstrant Andrew Reisman ist ebenfalls besorgt. „Frauenrechte sind Menschenrechte und diese Entscheidung ist die erste einer langen Liste, die unsere Rechte nach und nach abschaffen wird“, sagt er. Er fürchtet, dass die konservative Mehrheit des Obersten Gerichts als nächstes gegen die gleichgeschlechtliche Ehe vorgehen könnte - und sogar gegen die Empfängnisverhütung.

Anna Luis in Washington hätte gegen derartige Schritte möglicherweise wenig einzuwenden. Ihr geht die Entscheidung des Obersten Gerichts, mit der den einzelnen Bundesstaaten nun freisteht, Schwangerschaftsabbrüche zu erlauben, einzuschränken oder gänzlich zu verbieten, sogar nicht weit genug.

Die 24-jährige strikte Abtreibungsgegnerin plant mit ihrer Gruppe „Students for Life of America“ bereits die nächsten Schritte. Sie rechnet damit, dass nun die Zahl der Abtreibungen mit Hilfe der „Pille danach“ zunehmen wird, und will mit ihrer Gruppe sicherstellen, dass „nichts Illegales hinter den Kulissen abläuft“. „Unser Ziel ist es, die Abtreibung komplett abzuschaffen.“

ans/ju

(felt/AFP)
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